Äquilibristik
Wenig spektakulär sind die Figuren, die uns in Julia Veihelmanns Erzählungen entgegentreten: ein Passant ist darunter, eine Supermarktkassiererin, eine Groschenheftautorin, ein Hilfslehrer. Und auch wenn ich mich schwertue mit Vergleichen in Buchbesprechungen: Natürlich lässt auch mich der Hilfslehrer, der mit demütiger Gelassenheit von seiner Rolle bei einem ebenso banalen wie absurden Ritual berichtet, an Kafka denken. So sei es also gleich zu Beginn gesagt: Wer Kafkas Prosa (aus den gleichen Gründen wie ich) liebt, der sollte sich diese Geschichten nicht entgehen lassen.
"Bist du ein Landvermesser" möchte man auch den Erzähler der ersten Geschichte am liebsten fragen. Aus unklaren Gründen sucht der eine Stätte seiner Kindheit auf, ein Haus, dessen frühere Bestimmung wir nicht kennen und das nun in eine Karibikbar umgebaut wird. Zwischen den Arbeitern und dem Passanten entspinnt sich ein Gespräch, das zwischen Banalitäten und Provokationen schwankt und schließlich, ohne dass der Passant etwas von seiner Identität preisgegeben hätte, in ein Versteckspiel mündet. Die Identität des anderen bleibt den Gesprächspartnern dabei stets rätselhaft.
"Hat der Chef sie geschickt, dass Sie nach dem Rechten sehen?" fragte der andere Mann.
"Aber nicht doch", sagte ich beschwichtigend, ließ dann aber, was der Beschwichtigung zuwiderlaufen mochte, keine weitere Erklärung folgen.
Überhaupt erfahren auch wir Leser nur wenig von den Biographien der Protagonisten, ja die Protagonisten selbst haben immer wieder Schwierigkeiten, sich an die eigene Identität zu erinnern. Eine Ausnahme bildet - scheinbar - die Erzählung Heldinnen. Recht ausführlich berichtet die Erzählerin darin vom Lebensweg ihrer Freundin Sophie. Die aber, Autorin von Groschenromanen, berichtet ihrerseits vom Leben der Heldin ihrer aktuellen Geschichte, die ebenfalls Sophie heißt. Diese Sophie ist wiederum konfrontiert mit zwei identisch aussehenden Ehemännern, von denen einer im Keller eingemauert und schreibend auf seine Befreiung wartet - so wie Sophie, die Autorin, in ihrem Schreibzimmer eingesperrt vielleicht auch.
Ein leichter Schwindel stellt sich ein, dessen man nur durch ruhiges Atmen und konzentriertes Lesen Herr wird. Denn Veihelmann hält die drei Sphären der Selbst- und Außenwahrnehmung ihrer Figuren und der Wahrnehmung der Figuren durch den Leser stets im Zustand einander entgegenlaufender Bewegungen. Deckungsgleichheit stellt dabei nur selten ein. Manchmal gewollt, wie in der Erzählung Sieben Seen, in der die Erzählerin bemüht ist, den K. in ihrem Kopf mit dem K. in ihrem Leben zur Deckung zu bringen (Hinterher schien jedes Mal die Deckungsgleichheit wieder hergestellt), manchmal zufällig. In Peter und Molly. Ein Protokoll etwa berichtet eine geradezu journalistisch auftretende Erzählerin von Peter und Molly, die sich in grotesk übertriebener Weise als Liebespaar gerieren, um andere Paare vor den Kopf zu stoßen, und dann wenigstens beim gemeinsamen Abendessen doch auch selbst - und ohne es zu wollen - zu einem Paar zu werden.
Es ist, als balancierten die Erzählungen dieses Bandes wie Äquilibristen auf drei aufeinandergestapelten Bällen; die Lage dieser Bälle kann nur stabil sein, indem man sie sich mit größter Kraftanstrengung (nicht umsonst sind die meisten der Protagonisten Leidende) ständig ein wenig gegeneinander verschieben lässt. Doch eines Tages wird Peter auf die andere Seite des Spiegels, den er und Molly anderen vorhalten wollten, wechseln und aus Mollys Leben verschwinden und Molly wird anfangen, sogleich ein neues Spiel um ihr Wahrgenommenwerden als Witwe oder Verlassene zu beginnen, diesmal mit der Protokollantin. Und sicher wird auch dieser Balanceakt nicht von Dauer sein können. Denn Bewegungslosigkeit, ein zur Deckung Kommen, ist die unvermeidbare Katastrophe.
Als er mit einer Frau schlief, deren Nachnamen, eine lange, in seinen Ohren unstrukturierte Silbenfolge, er sich nicht mehr würde merken können, blieben ihm noch zwanzigeinhalb Tage. Das wusste er natürlich nicht.
So wird die Katastrophe in der letzten Erzählung des Bandes (Die Verlockungen des Unterholzes) schon im ersten Satz angekündigt. Immer stärker wird der Protagonist im Verlauf dieser Geschichte ins "Unterholz" gezogen, dahin, wo seine Selbstwahrnehmung und seine Wahrnehmung durch andere zur Deckung kommen (Am Freitagmorgen stand er lange vor dem Badezimmerspiegel und sah sich aufmerksam dabei zu, wie er sich die Zähne putzte). Zu welchen Mitteln das Unglück dann greifen wird, braucht dem Leser nicht einmal mehr mitgeteilt zu werden:
Jetzt, da er den Bürgersteig entlangging, nahm er die Hochstimmung an wie ein Geschenk und begrüßte auch die damit einhergehende absurde, unbegründete Zuversicht, dass alle Dinge sich finden würden - begrüßte sie wie einen alten Freund, den man lange nicht gesehen hat, den die Jahre einem aber nicht entfremdet haben.
Die Zeit, dachte er noch, die Zeit ist komisch.
Und damit endet die Geschichte.
Veihelmann versteht es meisterhaft, uns diese Balanceakte, die kleinen Verschiebungen, die für kurze Zeit eine prekäre Stabilität ermöglichen, vor Augen zu führen. Sie bedient sich dabei einer leisen und unprätentiösen Sprache, die sich niemals - weder bei den Figuren noch beim Leser - anbiedert, einer Sprache, die erst das langsame und konzentrierte Lesen möglich macht, das die Geschichten dieses Bandes brauchen und verdienen.
Ich wünsche dem Buch, das im Verlag Reinecke und Voß erschienen ist (und sich dort in guter und passender Gesellschaft befindet) viele Leser und mehr Aufmerksamkeit als so mancher aufgeblasenen Literaturdebatte.
Fixpoetry 2014
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