Schlafkristalle
Leicht ist es, an ein Buch - gerade an den Erstling eines Autors oder einer Autorin, zu deren Arbeiten man noch keinen Referenzrahmen besitzt - die "falschen" Anforderungen zu stellen: Beurteilt man eine Novelle nach den Kriterien eines Romans, kommt raus, die Figurencharakterisierung sei verkürzt und zu flach; liest man lange Gedichte von Heißenbüttel oder Brinkmann, als wären sie Werke hermetischer Poesie, müssen sie notwendig oberflächlich wirken; geht man den umgekehrten Weg, erscheinen die kurzen und kunstreichen Gebilde etwa Celans substanzlos-ephemer. Es geht da um die Frage: Was will man von dem je vorliegenden Buch? Welcher Art zu lesen ist es angemessen? Welchem Publikum? Im einfacheren Fall des Mainstream-Kinos lässt sich das Unterscheidungsproblem so fassen: Von einem sommerlichen Actionspektakel erwartet man keine komplexen Dialoge, von einer historischen Charakterstudie keine wohlchoreographierten Explosionen. Doch befriedigt beides die realen Bedürfnisse realer Rezipienten.
Im Sinne dieser Überlegungen darf man davon ausgehen, dass "Schuppenflügel. Ein Zyklus in Kehrtwenden" von Ronja Katharina Kohm eine Existenzberechtigung besitzt. Der Rezensent kennt sogar aus privater Anschauung Leute - lesende Leute, no less! - denen dieses Buch wahrscheinlich mehr sagen und besser gefallen dürfte als alles, was ihm selber als "gute Literatur" vorschwebt. Auch muss man anerkennend über Kohms Texte sagen, dass die Autorin offenkundig zu mehrschichtigen Kompositionen in der Lage ist. Die Kunst von Wiederholung-und-aussagekräftiger-Variation beherrscht sie hinreichend, um mitunter auch interessante Gebilde mit mehreren Zündstufen zu produzieren (ich denke da vor allem an das "Kleine Wolfslied"). Gleichwohl handelt es sich bei vielen der Gedichte in diesem Buch - wie angedeutet, nach Maßgabe jener Kriterien, die dem Rezensenten zu Gebote stehen - um schwer erträglichen Kitsch.
Die Inneneinrichtung der einzelnen Gedichte wird dominiert von viererlei: Erstens "ganz privaten" Empfindungen und Beobachtungen; zweitens Versatzstücken klassisch-literarischer Bildung mit besonderem Augenmerk auf die Symbolfiguren fürs Erdige-Chthonische, "Natürliche", "Weibliche" von Ophelia bis Persephone; drittens surreal-ambivalente Beschreibungen und Genitivmethaphern, beispielsweise
Die Venus steigt aus dem Aschengrund und hat sich doch gar nicht gerührt
oder
Der Bambus weht die Meere in das Zimmer roter Ordnung;
viertens schließlich, leider, viel zu große - zu beladene, zu abstrakte - Vokabeln allenthalben:
Bis zur Wiedergeburt zur Metamorphose zur Reinheit gereichende Katharsis!
Die ungefähr fünfzig Gedichte behandeln Momente und Szenarien, die von einem emotionalen, metaphorischen oder (seltener) gedanklichen Umschlagpunkt her definiert sind. Dies ist, worauf der Untertitel - "Ein Zyklus in Kehrtwenden" - verweist. Ein Teil des Bandes - der Teil, den ich leidlich gern gelesen habe - ist gespeist von Erfahrungen aus Kohms Tätigkeit als Schauspielerin. Weitere Texte sind Naturgedichte im engeren Sinn (innen wie aussen, alles das). Diese Gedichte bedienen nicht nur die üblichen Verfahrensweisen jener Gattung, sondern stellen auch eine ganz bestimmte Haltung des Textsubjekts der Natur gegenüber zur Schau. Diese Haltung, als gleichsam ideologische Fracht, sollte für die Einschätzung der Texte nicht überbewertet werden, aber ganz ignorieren kann man sie auch nicht, also - here we go: Es handelt sich im Wesentlichen um Waldorfschul- und Hippie-Lagerfeuer-kompatible Vernunftskepis zugunsten der - äh - Tiefen eines sinnlich-emotionalen Daseinsmodus. Unangenehm in den Vordergrund tritt dieser ideologische Aspekt bloß in einem einzigen Gedicht:
(...)
Es gibt Falter, die keine Rüssel haben.Reibende Zirkel auf Häuten stochern
im Ofen der Weltoffenheit.
Lichtet die Klarheit!
Glut der Leere verdunkelt alles Heilige der Welt.Neonseuche aus weißem Schleim;
Durchsicht auf der Bewegung gerinnt.
Schmierig stechend rührt sie stolz
im Roten Rand der Tulpen;
der hilflosen Kelche, die nichts mehr meinen:
verwaschnes Dunkel der Deutlichkeit -
ein Geistersterben, ein schattiges Leben -
Zweilicht [sic!] in Farben des Fortschritts.
Ein weiterer Teil der vorliegenden Gedichte ist explizit erotischer Natur. Kohm vermag es, und auch das muss man anerkennen, hier eine gegenstandsangemessene Heftigkeit zu entfalten, ohne auf emotionale Zwischentöne zu verzichten. Bloß, dass es bei manchen der Naturmetaphern fürs erotische Geschehen - erkennbaren Anklängen ans biblische Hohelied - ein wenig suspension of disbelief braucht, um sie ernst zu nehmen:
Ich singe Feigenfrüchte an die Wände deiner Zunge, Geliebter,
du streichelst den Keim von Violett in den Nächten
meiner Sehnsucht
Zum Aufbau des Bandes: Als wäre es die Überschrift eines Abschnitts oder Kapitels, prangt am Beginn des Buches, nach der Seite mit den Motti, auf einer sonst leeren Doppelseite das Wort "Einerseits". Aha, denkt man sich da, das Buch hat was mit "Kehrtwenden" zu tun, also wird auf dieses "Einerseits" später ein zweiter Abschnitt "Andererseits" folgen. Dem ist aber nicht so - stattdessen ist "Andererseits" schlicht der Name des allerletzten Gedichts, das so gleichsam die finale Kehrtwende des ganzen Zyklus darstellt. Was streckenweise wie unsystematisches Chaos wirkt - "Wo ist hier die zweite Kapitelüberschrift? Warum stehen diese vier Gedichte da abgesetzt von jenen zwei anderen? Welches ist der Bezug der Fotos zu den Texten, da kein inhaltlicher zu erkennen ist?" - offenbart so im letztmöglichen Moment noch System, Plan, Ordnung, oder behauptet eine solche zumindest. Damit entspricht die Gliederung des Buchs dem Aufbau der meisten einzelnen Texte, was auch bedeutet: Kohm zeigt, dass sie weiss, was sie da tut.
Alles in allem legt mir "Schuppenflügel" nahe, dass seine Autorin wohl ein angenehmer Mensch mit einem reichen, komplexen Gefühlsleben ist, mit einer ausgeprägten Gabe zur Selbstreflexion und einem Hang zum Theatralen, ein Mensch, mit dem sich sicherlich gut feiern oder an Bühnenprojekten arbeiten lässt. Dass die vorliegenden Gedichte ausser der Abbildung des Innenlebens dieses Menschen nichts zu bieten haben, gereicht ihnen zum Nachteil. Das ist insofern schade, als der vorherrschende Grad an Nuanciertheit und ja, Zartheit, vermuten lässt, Kohm hätte auch als Lyrikerin mehr und besseres zu bieten - vorausgesetzt, sie eignete sich einen Literaturbegriff an, der über den Satz hinausgeht, "Gedichte sind dazu da, um Gefühle auszudrücken".
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