… oder die Liebe zu den Begriffen
Katharina Schultens interessiert sich für Begriffe. Begriffe aus Bereichen, die ihr nicht unbedingt vertraut sind und in denen sie sich auch nicht unbedingt gut auskennt, wie sie in der Eröffnung ihrer Lesung zum diesjährigen Leonce und Lena-Preis bekannte. Was sie daran fasziniert ist das klangliche oder metaphorische Potenzial eines Begriffes, das noch nicht genutzt wird. „Rückgewinnung von Terrain“ nennt die Autorin diesen Vorgang. simpel eigentlich man sucht etwas durch/ ein uhrenglas hindurch vergrößert wahllos/ baut eine mechanik zusammen mit körper-/ fremdem material legt einen kreis an/ füllt ihn sorgfältig aus & sagt das sei/ Zellerkenntnis. (besuch bei gesunden begriffen).
Die Autorin, die Kulturwissenschaft in Hildesheim, St. Louis und Bologna studiert hat und jetzt Geschäftsführerin der School of Analytical Sciences Adlershof ist, ist eine Analytikerin. Sie durchforstet das Sprachmaterial der Fremd- und Fachsprachen nach wertvollen Begriffen, die es vermögen, in ihrer Definition etwas auf den Punkt zu bringen, das man ansonsten nur umschreiben kann. So z.B. der Titel ihres zweiten, im luxbooks Verlag erschienenen Gedichtbandes: gierstabil. Gierstabilität bezeichnet die Eigenschaft eines Fahrzeugs, sich ohne weitere Steuerung weitestgehend geradeaus zu halten. Das Vermögen aus eigener Kraft den Kurs zu halten. Katharina Schultens Gedichte schlingern nicht. Egal was sie sich anverwandelt, naturwissenschaftliche Diskurse, Liebesdiskurse, oder eine Kritik am Apostel Paulus, es fügt sich natürlich und stimmig in den Gedichtkontext. Und genau für diese gelingende Einverleibung nicht lyrischer Sprachsysteme in das Gedicht, als quasi subversives Element, wurde sie dieses Jahr mit dem Leonce und Lena-Preis ausgezeichnet.
In sechs Zyklen mit jeweils sieben Gedichten hat die Autorin ihren Band eingeteilt. Diese Liebe zur Formstrenge spiegelt sich auch im Aufbau der einzelnen Gedichte wider. Klassische Strophenformen wie Terzinen, die Sonett- oder Volksliedstrophen wechseln mit eigenen Kreationen ab, die ebenso schematisch oder symmetrisch gebaut sind. Was äußerlich somit fest in Tradition und Form verankert ist, nimmt sich inhaltlich und sprachlich wiederum viel Freiraum für Experimente.
Fachsprachen, Fremdsprachen, Mediensprache, das kunstvolle lyrische Sprechen (ein februar mit falschen farben), sowie die banale Alltagssprache (damn it) verdichten sich auf erstaunliche Weise zu einem neuen stimmigen organischen Gedichtganzen: ich träumte ich bekäme ein bild. draußen alarm/ blaue lichter zuckten. die funktionen jaulten./ die tür: ein display –
blinkte klappend auf.
Die konsequente Kleinschreibung, der spielerische Gebrauch von Zeichensetzung und Klangspielen erinnern dabei an Thomas Kling.
Eine besondere Bedeutung kommt der omnipräsenten englischen Sprache zu, die immer wieder als Versatzstück, Zitat, Pose auftaucht. Man gewinnt den Eindruck, als wollte sich die Autorin gegen dieses Einschleichen der Anglizismen in unseren Sprachgebrauch und unser Denken wehren, aber erfolglos: das Wort für das Geräusch nicht/ zu finden alles ins haus zu tragen crumbling crumbling bitte// eine sprache.
Einige Gedichte enden mit einem Bindestrich – zeigen ins Offene, das aber kein Richtungsloses ist. Vielmehr deutet sich an, dass hier gerade nochmals von vorne begonnen werden könnte. Die Autorin gönnt sich nur kurz eine Gedankenpause, bevor der unermüdliche Forscherblick den nächsten Bereich, das nächste Feld abtasten, vermessen und in Versen ordnen wird.
ich weiß es gibt ein system ich muß nur/ nochmal rein.
alles kalkulation? Eine sehr anspruchsvolle Lektüre auf jeden Fall, deren Anspielungsreichtum auf die Literatur- und Kulturgeschichte manchmal erfreut und manchmal auch ermüdet. Trotz des Stotterns ab und an; der Frage- und Suchbewegungen; trotz des Versuchs den Liebesdiskurs und die Transzendenz neu zu ergründen, bleibt die Autorin dabei immerzu beherrscht. Manchmal wünschte man sich, die Gedichte würden schlingern und sich auch in ihren Ausrutschern offenbaren.
Aber ist das eine Kritik?
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