Die schwarze Milch einer leuchtend grauen Kindheit
Ilse Aichinger hat darauf hingewiesen, dass das Schwierigste und zugleich Unverzichtbarste am Schreiben das Schweigen sei. Ich bin mir sicher, dass Kerstin Becker sehr gut versteht, was damit gemeint ist. Nicht nur weil vier Jahre Arbeit in ihrem klug und genau durchkomponierten Gedichtband stecken, sondern vor allem, weil man lange schweigen muss, bis die Bilder der Kindheit mit solch einer Klarheit und poetischen Kraft hervortreten können, wie es in „Biestmilch“ geschieht.
Und was für ein treffender Titel „Biestmilch“ ist, wie wohl überlegt und durchdacht. In fast allen Kapiteln liegt der Anordnung der Gedichte eine Zusammensetzung zugrunde, die Natur und Gesellschaftliches zunächst neutral verschränkt, bis eine Zäsur herbeigeführt wird, durch den Einbruch des Rohen, Gewaltsamen in das bislang Sanfte und Heimelige. Auf diese Weise fängt „Biestmilch“ dieses Widersprüchliche aus dem die Kindheit ist, aus dem die Herkunft sich speist, ein. All das spiegelt die Wortschöpfung. In „Biestmilch“ geht es um Herkunft, um soziale und anthropologische Herkunft, aber auch darum, wie unser Ursprung uns verfolgt, uns, auch wenn wir scheinbar längst erwachsen sind, zusetzt. Kerstin Becker hat ihrem Gedichtband dazu ein sehr treffendes Gedicht von Szilárd Borbély vorangestellt. Darin heißt es zu Ende:
„[...]
Meine Schuhe drücken
an den Zehen.
Ich bin schon längst aus
ihnen herausgewachsen.“
Und die Herkunft, jedenfalls die, die Becker in diesem Gedichtband beschreibt, ist so ein Schuh, der drückt, weil man aus ihm herausgewachsen ist, und den man dennoch nicht abstreifen kann.
Dieser Ursprung ist etwas, das niemals einen allein betrifft, deshalb ist es nur konsequent, dass Kerstin Becker in den meisten Gedichten mit einem „wir“ arbeitet, das sowohl eine Gemeinschaft, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, als mitunter auch eine überlebensnotwendige Verallgemeinerung bezeichnet.
„wir lernten schon
in der Plazenta Kummer kaun
bittere Kost jetzt sind wir hier [...]“
Damit leitet Becker den Herkunftsreigen ein. Mit diesem bildgewaltigen vorgeburtlichen Kummer, und der Unmöglichkeit, aber nicht Undenkbarkeit, im Schatten unserer pränatalen Landschaft zu bleiben.
Man sieht Kinder in einer fast archaischen Landschaft, Erwachsene, die sich in ihr Schicksal ergeben haben, alles wird kompromisslos klar geschildert und immer gelingt Becker eine natürliche und einleuchtende Verschränkung von Gesellschaft und Natur, ganz nebenbei geschieht das, fast unmerklich in seiner Selbstverständlichkeit:
„[...] der Hofhund jagt
sich selbst im Kreis er stammt
von wilden Wölfen ab wir sind
hier eingeborn“
Geschichte in Form von Nachkriegserlebnisse, das Erwachen der Lust, aber auch des Widerstandgeistes, all das verknüpft Becker mit Beobachtungen der Natur.
„[...] Russen kamen gegen Ende abgezehrt
sagen alle aus dem Wald
legten Frauen Aug
um Auge flach es brennt
der Rachedurst [...]“
Dabei dient der Wald, die Natur, nicht allein als Rückzugsort und Erlebnisraum, sondern darüber hinaus als Alternative, wie Zusammenleben auch gestaltet werden könnte:
„Keiler schäumen in der Rausche
Bachen lieben ihre Würfe ab sie kennen
keine Körperstrafen Häher
fliegen auf in weichen Suhlen
wächst die Lust am Wälzen
am Gefühl“
Insgesamt zeichnet die Gedichte eine sehr gekonnte und weitreichende Verknüpfung von Umwelt und Mensch aus. Manchmal ist der Mensch grausamer als die Natur, manchmal tröstet der Wald, manchmal fürchtet sich die kindliche Seele vor der Grausamkeit der Natur, manchmal beschreibt sie es mit einem wohligen Schaudern. Das Wilde der Natur und das Nahrhafte, dieses Widersprüchliche aus dem die Kindheit besteht, aus dem auch später noch, die Herkunft sich speist.
Die unterschiedlichen Kapitel in die Beckers Gedichte unterteilt sind, gliedern sich nach einem ähnlichen Prinzip. Die Gedichtfolge beginnt mit der Geburt, mit dem „ins leben geworfen sein“, wird von einem Motiv, wie z.B. der Milch, zusammengehalten, indem über die erste Milch für das Neugeborene über das Spielen der Kinder in Milchtanks und Beobachtungen in der Käserei und Erlebnissen in der Natur, schließlich der Bruch herbeigeführt wird. Wie eine Dusche mit sehr kaltem Wasser, bricht im nächsten Gedicht kindliche Grausamkeit die vermeintliche Idylle.
So wird die Zäsur eingeleitet, weg vom Glas, von der körperwarmen Milch, zurück zum glasklaren Wasser des Flusses.
Trost findet sich ein weiteres Mal in der Natur. Dieses Mal ist es ein lyrisches Ich, das ein anderes zum Handeln auffordert :
Geh voran, gerade durch
Schwesterlein komm flieh mit mir
vor Schelte Schimpf Maschinenstampf
nimm den Campingbeutel
wir brennen durch
frei wie Harka
Steinhartim Wald atmen Bäume Licht beschützen
uns sie verstellen sich nicht
wir hören wenn die Spechte hämmern
Hohlräume singen[...]
Im folgenden Kapitel nimmt Becker uns mit in die kindliche Welt, in die auch wir einst im Spiel versunken sind.
Die natürliche Herkunft wird um die „soziale“ ergänzt, Beobachtungen der Arbeitswelt, der Erwachsenen in den Fabriken, treten an die Stelle des ländlich bäuerlichen Hintergrundes.
Dennoch spürt man auch hier die Enge und Ausweglosigkeit der Erwachsenen, die untergründige Gewalt scheint überall durch. Dieses Mal ist die Kohle das Motiv, das sich durch die Gedichte zieht, einmal als Brennstoff, der schon im August vom Keller in die Wohnung geschleppt wird, über den Heizer und auch hier eingeleitet, wie zuvor beim Motiv der Milch, durch ein kindliches Spiel. Wiederum bricht die Gewalt ein, dieses Mal häusliche Gewalt, gegen Kinder, gegen Frauen, aber auch Gewalt der Ohnmächtigen gegen sich selbst. Auch das ist ein Teil der Herkunft:
„so wachsen wir auf
zusammen“
Diese Gewalterfahrungen, ebenso wie kurze Momente der Entspannung, wenn es fast liebevoll zugeht, bilden gemeinsam mit den Bildern der Kindheit, mit den Details, an die man sich erinnert, den Herkunftsraum, den Anfang des Kreislaufes, den Beckers Gedichte an mehreren Stellen mitleidlos, aber ohne Ekel, ohne Boshaftigkeit, beschreiben. Konsequent enden die Gedichte mit „Leichenschmaus“, auch hier nichts persönliches, keine Trauer, nur „die Leute“, die weiterleben, Halt finden in der Enge der Rituale.
Im Gedicht „Territorium“ heißt es „[...] wir suchen [...] unseren Zusammenhang.“ Dieses Suchbewegung beschreiben Kerstin Beckers Gedichte. Allerdings ist diese Suchbewegung keine intellektuelle Suche, es ist nicht zuletzt die Körperlichkeit, die Beckers Gedichte auszeichnet.
Das Besondere an „Biestmilch“ ist, dass die Kinderwelt, mit all ihrer Magie und Faszination einfangen wird, ohne das Unrecht, die Ungerechtigkeit und Grausamkeit, die diese Kindheit auch ausgemacht haben, zu verschweigen. Auch stilistisch spiegelt sich der Bruch, der der Anordnung der Gedichte zugrunde liegt, die sich häufig durch liedhafte Rhythmen auszeichnen, Becker flicht Zitate aus Volksliedern, Gebeten und Märchen ein. Andererseits arbeitet sie mit Enjambements, um das Liedhafte, das beruhigend Rhythmische ihrer Gedichte, zu brechen.
Dieses Schreiben hat eine Notwendigkeit, ist Zeitgeschichte, Standortbestimmung, die poetisch erzählte Geschichte einer Generation zwischen Natur und Gewalt. Nahrhaft wie Milch. Biestmilch.
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