Mit offenen Poren im Synapsenrausch(en)
Weiß auf schwarzem Grund kündigt das Cover von Kerstin Beckers erstem Gedichtband „Fasernackte Verse“ an, streng, fast ein bißchen asketisch anmutend. Doch dieser Eindruck wird schnell ins Gegenteil verkehrt, prallbunt, sinnlich flirrend und von einer aufregenden, geradezu atemlosen Gier nach Leben durchflutet sind die Gedichte. So unverhüllt und offen, direkt und unmittelbar hat man sinnliche und sexuelle Erfahrungen seit Anne Sexton (auf die sich ein ganzer Zyklus spiegelnd beruft), Muriel Rukeyser und Denise Levertov selten einmal gelesen.
Kerstin Becker verzichtet darauf, die Phänomene des Körpers in eine große Philosophie einzubinden, sie werden in Momentaufnahmen gezeigt, beinahe beiläufig, ephemer und augenblicksewig — umso dringlicher fällt darum die Lobpreisung des Körpers aus, indem alles benannt wird, ein paradiesisches Erkennen des Anderen, jada: die Behaarung, die Adern, die Nahrung in den Bäuchen, der Schweiß. Liebe und Sex, sie sind religiös aufgeladen: „ich fühl was aus dir schoss in mir / den vorbestimmten Weg nach oben ziehn // Pilger mit dem Kopf zuerst / gen Mekka hin zum schwarzen Stein“.
Die Liebe findet in der Natur statt, im urbanen Raum, Körper und Landschaft verschmelzen, Stadt und Natur dringen in die Metaphorik des Körpers ein, sie machen nicht einmal Halt vor der Tierhaftigkeit, dem Kreatürlichen: „dass wir uns Kiesel greifen / zwei drei Halme oder im Klecks / aus dem perfekten Anus eines Kranichs lesen“. Was wird gelesen? Geheimes oder Offensichtliches? Wir erfahren es nicht. Die Liebe umschließt Lebenswasser, Lethewasser und deren Kreisläufe in Körper und Geist: „wir trinken / um zu vergessen uns zu erinnern sags mir / unsre Blicke sind streunende Hunde alles / pinkeln sie an“. So führt der Weg immer von innen nach draußen, zum anderen, in die Welt, und auch wieder zurück:
Dein Herz klopfte mit einem Affen
zahn an mein heißes Gesicht
unter deiner Haut salzige
Quellen deine
Finger kleine
ausgewilderte
Schlangen
Die Beziehungslosigkeit in der modernen Gesellschaft, die tausendfältigen Probleme einer Beziehung, sie spielen hier keine Rolle, es geht um das Verbindende, nicht das Trennende, es ist eine Feier des Staunens im, am und über den Anderen. Selbst da, wo kritische Töne nicht ausgespart werden, zum Beispiel in dem Gedicht „Maria“, in dem Zwangsheirat und frühe ungewollte Schwangerschaft zur Sprache kommen, wird emphatisch gejubelt: „es kommt“, „es ist da“, und zwar, trotz der Anklänge an den Erlösermythos, „wie all die andern zerzausten / Dinger im Dreck irgendwo / mit weichen Fontanellen“.
Kerstin Beckers Debutband ist ein sympathischer, sehr gelungener Wurf, der einmal mehr zeigt, daß handwerkliche Perfektion und tiefe Gefühle einander durchaus nicht widersprechen müssen.
Fixpoetry 2012
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