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Kritik

Es war einmal und ist noch immer

Der Lyrikband "Gesammelte Fehlmärchen" von Kristin Schulz
Hamburg

Die Bücher des Frankfurter Gutleut Verlages sind wunderschön. Und der Steinhaufen ist auch beinahe weggeräumt. Langsam wird er eine exzellente Adresse für Autoren. Dies sieht man schon an den Namen derer, die hier veröffentlicht werden. Kristin Schulz ist eine davon. Das Cover und den Umschlag zieren in warmen Grautönen Waldbilder von Sabina Simons. Der Umschlag kann bis zur Größe einer Zeitungsseite aufgefaltet werden und enthält weitere Wald-Fotos und "ein Gespräch über Worte" zwischen Annett Gröschner und Kristin Schulz, aus dem im Folgenden auch zitiert wird.

Zwischen so viel Schönheit müssen sich die Wörter vorsichtig bewegen. Und sie tun es. Schon rein äußerlich machen sie sich klein und wirken dadurch gleichberechtigt. Keine Wortart reckt den Kopf aus der Masse, kaum ein Satzzeichen macht sie laut oder leise, wichtig oder unbedeutend. Wenn Kleinschreibung sinnvoll erscheint, dann hier. Genau so gehen die Gedichte vor. Kaum eines hat einen Titel, alle stehen unter fortlaufenden Nummern, 75 an der Zahl. Wenige der Texte sind mehrstrophisch, in einigen gibt es Binnenreime, die allerdings so unaufdringlich daher kommen, dass man sie kaum bemerkt.

Bisweilen neigen die Texte zu magischen Wiederholungen, wie dies in Märchen üblich ist. Kristin Schulz hat dem Band ja auch den Titel "Fehlmärchen" gegeben, was impliziert, dass es sich hier um Märchen handelt, die vielleicht ihr Ziel verfehlen oder die Zielgruppe oder etwas anderes. Und man fragt sich natürlich, ob Märchen wirklich in Form von Gedichten daherkommen müssen. Aber nein, es sind keine Märchen, und Kristin Schulz erzählt auch nicht. Eher könnte man sagen, sie verschweigt. Was sie verschweigt, ist allerdings nicht leicht herauszufinden. Man muss graben oder raten oder fühlen, oft auch wissen und kennen, und am Ende hat man dabei drei Wünsche frei.

Annett Gröschner bemüht sich, den Gedichten auf den Grund zu gehen, indem sie Schlüsselwörter zählt: "Ich zähle 23x "Herz", 20x "Tod", 19x "Kind", 16x "Ende", 15x "Worte", 13x "Atem". Aber nur 4x "Knochen", 4x "Seele", 3x "Gott", 3x "Sterben", aber 12x "Leben"." Bei Wörtern wie "Kippschalter" wird sie hellhörig.

Kristin Schulz bezeichnet die häufigen Wörter im "Gespräch über Worte" als "Senkblei der Gedanken" und sagt: "… die anderen versuchen, trotz Blei sich zu erheben." Sie benutzt den Terminus "Worte" statt "Wörter" und denkt sich bestimmt etwas dabei.

Viele ihrer Wörter stammen aus der Welt der Märchen; manche Texte wirken deshalb wie aus der Zeit gefallen. Sie beschreiben eine Innenwelt, dann Heim und Hof, dann die Natur, selten Urbanes. Wie im Märchen kommen in den Gedichten häufig Tiere vor. Diese sind Mauersegler und Rotkehlchen, Ameisen, Hühner, Katzen und Tauben, Kühe und Pferde und natürlich auch die Kröte. Zu den Tieren hat die Dichterin Vertrauen: "Vielleicht wissen sie, wie es geht." Die Betonung liegt hier auf dem "sie".

Es geht Kristin Schulz um viel, das ist klar: "Wer die Dinge zusammenhalten muß, reduziert sie auf einen Kernbestand." Aller scheinbaren Logik des Geschehens wird misstraut, und auch da, wo die Sprache sich in feste Wendungen runden will, springen die Texte panisch davon, in andere Richtungen, Hauptsache weg aus dem, was verstehbar erscheint und damit ad acta gelegt werden kann. Und gleichzeitig springen sie einen an und rütteln an den Türen und wollen herein.

1

mir nach! ins unterholz ins dichte rufst
du ich folge dir blatt um blatt und von
den fingerspitzen les ich den saum
der worte bevor sie in netzen der
spinnen sich fangen fremd wie die
färbung der bäume nicht tröstet
sondern dunkelt verwirrt auch
die bäume sagst du hüllen in rinde
sich unzugänglich bedrängnissen
eine widmung für spechte widersprech
ich – bedenke die ameisen leitsysteme
die steigenden wasser! die wurzel
allein sagst du kennt sich aus in
permeablen transistorien uns
fehlte der halt selbst die erde schweigt
tiefer sagst du und bist einen atem
voraus windflüchtig hält der
horizont abstand und dauert doch
ahnt die seele ein hut ein stock ein
klotz am bein hinke ich dir mir nach
mir nach! auf! ins ungewisse und
davon kommst du dir wieder und wider

Oftmals konzentrieren sich die Gedichte auf die Trias Geburt, Leben, Tod.

4

unserkind schläft. unserkind hat
die augen im blick das herz in der seele
und den tod im leib. unserkind weiß
nicht ein noch aus der haut ans licht

Märchenmotive irrlichtern durch die Texte, Märchenfiguren begegnen sich in ihnen und bilden die Pfeiler neuer Wirklichkeiten. Das lyrische Ich spricht aus ihrem Mund, schaut mit ihren Augen.

10

von meinem tellerchen gegessen hast
du von meinen lippen getrunken hast du in
meinem herzen gesessen hast du vor mir
niedergesunken bist du vogel oder fels als
ich erwachte mein grab so kalt stand
still die welt bargen die berge die
schluchten flieh stein oder
steh: im tod erst
bin ich dir
sicher

Und bisweilen lassen sich Bezüge ahnen wie im folgenden Gedicht, das an Walter Benjamins "Berliner Kindheit um 1900" erinnert. ("Ich lese auch Walter Benjamins Berliner Kindheit als (Fehl)märchen.", sagt Kerstin Schulz im Gespräch über Worte.)

30 oder post festum

ich lebe in einem hausaltar ein falscher
flügelschlag und er geht in die knie tauben-
atem gegen fensterläden kein ofen schlägt
den winter in die flucht kommen werden
und bleiben unbeteiligte die postkarten
haben kinder in ihren briefmarken nicht einmal
schweigen kennt deinen grund und das erinnern –

 Kristin Schulz liest viele literarische Texte als Fehlmärchen, und Bezüge dazu stellt sie vorsichtig, kaum bemerkbar her ­– vorsichtig wie alles, was sie in diesem Band tut. Man muss schon ein Ohr für leise Töne haben, wenn man das Buch goutieren will, und für eine Sprache, die sich zum Es-war-einmal öffnet und nichts zu Ende führt. Nicht umsonst endet der Gedichtband mit einem Zitat aus dem Essayfilm "Sans soleil" von Chris Marker: "Will there be a last letter?"

Man kommt nicht umhin, dabei an letzte Fragen zu denken.

 

Anm. der Redaktion: Die Webseite des Gutleut Verlages wurde gehackt. Bei Interesse nutzen Sie bitte die nachstehenden Kontaktadressen.
kaiserstraße 55 | d-60329 frankfurt/main | mail@gutleut-verlag.com | tel: 49.069.87878658 | mobil: 49.01726138227 | fax: 49.069.253269

Kristin Schulz
gesammelte fehlmärchen
mit fotografien von sabina simons und einem gespräch zwischen annett gröschner und kristin schulz
Gutleut Verlag
2014 · 80 Seiten · 15,00 Euro
ISBN:
978-3-936826-72-2

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