Syrische Stimmen
Seit fast vier Jahren dauert der Krieg in Syrien inzwischen an. Was mit friedlichen Demonstrationen im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 begann und vom Regime Baschar Al-Assads brutal niedergeschlagen wurde, hat sich zu einem Vernichtungskrieg des Militärs gegen die syrische Zivilbevölkerung ausgewachsen, im entstandenen Machtvakuum hat sich der Islamische Staat (IS) eingenistet und eine eigene Terrorherrschaft etabliert, die bis an die türkische Grenze, in den Libanon und tief in den Irak hinein reicht. Neun Millionen Menschen sind auf der Flucht, gut zwei Drittel davon innerhalb Syriens, Millionen wurden von den Nachbarländern aufgenommen, während sich Europa in hochnotpeinlichen Streitigkeiten um die Aufnahme einer Handvoll Menschen verzettelt und ansonsten dem Massenmord schulterzuckend zusieht: Über 250.000 Menschen sind tot. Die meisten starben unter den massiven Bombardements der syrischen Armee, die ganze Städte und Landstriche in Schutt und Asche gelegt haben; Zehntausende starben unter Folter in syrischen Gefängnissen, und in immer größeren Gebieten sterben die Menschen an Hunger oder an vergleichsweise harmlosen Krankheiten, weil es an Medikamenten fehlt, die Krankenhäuser zerstört und nahezu alle Ärzte entweder tot oder ins Ausland geflüchtet sind. Und ein Ende ist nicht abzusehen. Während Assad von Russland und Iran gestützt wird, haben Europa, die USA und die Arabische Liga gefühlte tausend Möglichkeiten zum Einschreiten tatenlos verstreichen lassen – nichtmal auf eine Flugverbotszone konnte man sich einigen. Das syrische Volk wird vor den Augen der Welt ausgelöscht.
Und selbst die Medien interessieren sich kaum noch für das Thema. Die Schlagzeilen haben sich totgelaufen – ebenso wie der Kampf der Kurden in Kobane gegen die heranstürmenden IS-Truppen. Als er länger als einen Monat andauerte verschwand er aus der täglichen Berichterstattung. Wenn noch was kommt, dann allenfalls, wenn es dramatische Bilder zu präsentieren gibt. Und es gibt viel Gerede von oben herab. Ein Forum für die syrischen Stimmen? Fehlanzeige.
Dieses Forum liefert Herausgeberin Larissa Bender nun mit ihrer Anthologie „Innenansichten aus Syrien“ (edition faust, 2014). Ein Panorama. Interviews, Essays, Romanauszüge, Dokumentation, Bildende Kunst von Syrern. Einige leben noch im Land, andere sind geflüchtet. Aber alle sind nah dran an dem, was geschieht, sie geben verstörende und schmerzliche Einblicke in ein Land, in dem es außer Gewalt, Zerstörung und Hoffnungslosigkeit fast nichts mehr gibt. Und so vielfältig die Stimmen und Haltungen sind, so sehr eint sie doch die Enttäuschung, Wut und Fassungslosigkeit darüber, dass die Welt all das nicht nur tatenlos geschehen lässt, sondern dass sie es inzwischen sogar weitestgehend ignoriert.
„Alle versuchen die Augenblicke des Frohsinns festzuhalten, doch sogar das Lachen hat sich verändert“, schreibt der Schriftsteller Khaled Khalifa. „Unser Lachen passt zum Krieg. Wir brechen unversehens in hysterisches Gelächter aus, doch plötzlich fängt einer an zu weinen.“ Khalifa ist in Syrien geblieben. Er wollte seine Heimat nicht verlassen, wie unzählige andere. Zuerst sind die Reichen und die Mittelschicht gegangen. Die, die es sich leisten konnten, haben sich in Sicherheit gebracht. Was sie kannten, was einmal ihr Leben war, existiert nicht mehr. Wer geblieben ist, hat Glück, wenn er in einer der wenigen Regionen untergekommen ist, die nicht unter Dauerfeuer von Fassbomben und Scuds liegt oder im IS-Gebiet. In den Vororten von Damaskus steht kaum ein Stein mehr auf dem anderen, und wer sich aus Not ins Freie wagt, riskiert, von einem Sniper erschossen zu werden. Der Krieg ist auf die größtmögliche Zahl ziviler Opfer angelegt. Der IS, der sich im US-besetzten Irak entwickeln konnte, wurde von Assad lange in Ruhe gelassen. Das Regime hoffte, dass die Radikalen die Revolution zerschlagen würden. Nun sind sie zu einer Gefahr für die gesamte Region herangewachsen. Und das ausgerechnet in Syrien, das zuvor einen moderaten Islam pflegte, der ohne größere Probleme mit Christen, Juden und zahlreichen anderen Glaubensgemeinschaften zusammenlebte.
Fast jeder hat jemanden verloren. Ganze Familien wurden ermordet oder sind über die Welt verstreut. Hunderttausende vegetieren und katastrophalen Bedingungen in Flüchtlingslagern oder ohne jede Perspektive in der Türkei, im Libanon, in Iran. Sie leben noch, aber das ist auch schon alles. Samar Yazbek dokumentiert die Geschichten von Frauen, die in den Foltergefängnissen des Regimes saßen – weil sie an Demos teilgenommen oder weil sie desertierten Soldaten geholfen hatten, die sich weigerten auf ihre Landsleute zu schießen. Sie dokumentiert die Stimmen von jenen, die sogar die Folter und die Verhöre dem Leben draußen vorziehen, weil es draußen passieren kann, dass man durch Straßen geht, in denen verstümmelte Leichen liegen; weil es draußen passieren kann, dass dem eigenen Bruder der Kopf abgeschlagen wird.
Wir brauchen die biblischen Bilder der Hölle nicht mehr. In Syrien sind sie real.
Und dennoch gibt es Menschen in Syrien oder im Exil, die die Hoffnung nicht aufgeben. Die Bücher und Theaterstücke schreiben und unter Lebensgefahr aufführen, die Magazine mit Berichten und Karikaturen drucken und wissen, dass der nächste Gang durch einen Checkpoint ihr letzter sein kann. Menschen wie der Regisseur Rafat Alzakout, der dem Unfassbaren mit der unzerstörbaren Macht des Humors begegnet, der seine bissige Satire gegen Assad und seine Getreuen in Form von Puppenspielen auf Youtube veröffentlicht – in erster Linie für den Rest der Welt, denn innerhalb Syriens gibt es nur noch punktuell Internetzugang. Es gibt die junge Fotografin Nour Kelze aus Aleppo, die unermüdlich festhält, was sie sieht.
Larissa Bender leistet mit dieser Sammlung, was alle großen Medien, von Spiegel über FAZ, SZ, Zeit, taz und Co seit Jahren nicht hinbekommen: Die Situation in Syrien aus syrischer Perspektive in all ihrer erschütternden Komplexität darzulegen. Das Buch stellt viele Fragen und gibt nur wenige Antworten, weil die Fragen zu komplex sind, um sich einfach beantworten zu lassen. Es gibt bewusst keine Eindeutigkeiten – aber es wird ein Bild gezeichnet. Eines, dem man sich nicht verschließen sollte. Besser: Dem man sich nicht verschließen darf, wenn einem Menschenrechte und freiheitliche Werte auch nur ein Jota bedeuten.
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