"Es wäre ja auch ein Witz, wenn wir Untertanen von Leuten würden, die noch größere Schurken als wir selbst sind!"
Wenn man die generationsübergreifend präsentierten Schönlinge (von Douglas Fairbanks über Errol Flynn bis hin zu Johnny Depp) und die mit ihnen verbundene Hollywood-Romantik außer Acht lässt, so sind die Assoziationen mit der klassischen Piraterie für gewöhnlich recht düstere: schwarze Zahnstumpen, Augenklappen und Holzbeine und schanghaites1 Kanonenfutter, das sich unter einer totenkopf-bewehrten Flagge und einem diktatorischen, von Gier und/oder Rachsucht getriebenen Kapitän abzurackern hatte, was nicht eben selten mit Peitschenhieben oder Kielholen, einer Meuterei und dem Aussetzen auf einer einsamen Insel, dem königlichen Schafott oder dem Galgen endete ...
Alles Quatsch, erstunken und erlogen – wenn man dem von Larry Law verfassten und seit 2015 erstmals in deutscher Übersetzung von Axel Monte vorliegenden Buch "Die wahre Geschichte von Captain Misson und der Republik Libertatia" glauben darf. Es erzählt die Geschichte eines intelligenten, in Geisteswissenschaften und Logik geschulten jungen Mannes, der sich, anstatt den für ihn vorgezeichneten Dienst bei den Musketieren anzutreten, dazu entschloss, als Freiwilliger auf dem von einem Verwandten befehligten Kriegsschiff "Victoire" anzuheuern. Während eines Landgangs in Rom lernte er nicht nur die dekadenten Zustände am päpstlichen Hofe, sondern auch den Priester Caraccioli kennen, der die Selbstsucht und Verdorbenheit des Klerus satt hatte und deshalb beschloss, Misson (eben jenen jungen Mann, dessen richtiger Name nicht überliefert ist) auf die "Victoire" zu begleiten. Während der gemeinsamen Zeit auf dem Schiff reifte die Idee, sich selbständig zu machen. Vor Martinique kam es zu einem Gefecht mit einem englischen Kriegschiff, bei dem der Kapitän und die gesamte Führungscrew der "Victoire" getötet wurden, wodurch Misson und Caraccioli die Kontrolle über das Schiff erlangten. Misson verkündete, dass er ein Leben in Freiheit führen wolle, woraufhin die Mannschaft ihn zu ihrem Kapitän ernannte. Als der gewählte Schiffsrat unter schwarzer Flagge auf Beutezug gehen wollte, erhob Caraccioli Einspruch und riet nicht nur zu einer weißen Flagge mit dem Schriftzug "Liberté!", sondern auch dazu, künftig als Hüter der Rechte und der Freiheit der Menschen aufzutreten. Und so kam es. Nichtsdestotrotz verstanden sie sich als Piraten – wenn auch der Umgang mit ihren Gefangenen freundlich und mehr als fair war (so wurden erbeutete Sklaven nicht etwa verkauft, sondern eingekleidet und in die eigene Mannschaft integriert).
In der Folge liefen immer mehr Seeleute erbeuteter Schiffe zu Misson über, der auf Madagaskar eine kleine Stadt für alte und versehrte Crewmitglieder errichtete. Die Piraten tauften ihre neue Heimat "Libertatia", legten alle nationalen Bezeichnungen ab und nannten sich fortan "Liberi".
Von Madagaskar aus wurden neue Ziele ins Auge gefasst, und es hätte wohl ewig so weitergehen können, wenn nicht eines Tages das passiert wäre, was Misson insgeheim befürchtet hatte: Libertatia wurde von fünf portugiesischen Kriegsschiffen angegriffen. Wie sich herausstellte, befanden sich unter den Angreifern auch Seeleute, die kurz zuvor unter Eid freigelassen worden waren, niemals gegen Libertatia zu kämpfen – Undank ist der Welten Lohn! Als Misson selbst dafür noch Gnade vor Recht ergehen lassen wollte, wandten sich seine Anhänger gegen ihn. Die Versammlung drängte auf eine formelle Regierung ... das Erlassen von Gesetzen und die Umwandlung des Gemeinschafts- in Privatvermögen – kaum einen Monat nach dem Angriff der Portugiesen waren in Libertatia Todesstrafe, Geld, Privatbesitz und Lohnarbeit eingeführt: der Anfang vom Ende ...
Ein mehr als lehrreiches, mit allen Stärken und Schwächen des menschlichen Seins behaftetes Drama der Weltgeschichte – oder doch nur Fiktion?
"Die wahre Geschichte von Captain Misson und der Republik Libertatia" wurde 1980 erstmals vom britischen Situationisten Larry Law veröffentlicht. Als Hauptquelle der Misson-Legende gilt das Buch "A General History of the Robberies and Murders of the Most Notorious Pyrates" aus dem Jahre 1724, verfasst von einem gewissen Captain Charles Johnson – bei dem es sich jedoch um ein Pseudonym von Daniel Defoe gehandelt haben soll, der mit Misson eine Phantasiefigur erschuf, der er seine eigenen (zur damaligen Zeit) gesellschaftspolitisch-radikalen Ansichten ungestraft in den Mund legen konnte ...
Eine dokumentarische Erzählung mit dem Wahrheitsgehalt einer Buddel voll Rum, oder doch ein Knäuel des berüchtigten Seemannsgarns? Wie auch immer: Eine interessante, den Geist anregende Lektüre ist "Die wahre Geschichte von Captain Misson und der Republik Libertatia" allemal.
- 1. Anmerkung der Redaktion: Zu unserer Überraschung ist "[jemanden] schanghaien" laut Duden ein deutsches Verb und bedeutet: "betrunken machen, in diesem Zustand für ein Schiff anheuern und [mit Gewalt] an Bord bringen"
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