Schatten werfen keine Schatten
Eine Eröffnung, die sich sehen lassen kann: „An dem Tag, als ich, knietief in der Schande, nach Templeton zurückkehrte, tauchte im Flimmerspiegelsee der über fünfzehn Meter lange Kadaver eines Ungeheuers auf“. Zu Beginn ihres Debüts wirft Lauren Groff gleich mehrere Köder aus. Die Gefahr, die ein solches Fadenmeer begleitet freilich, liegt in der Verhedderung der Stränge.
Willie steckt bis zum Hals in Ärger. Nicht nur, dass sie eine Affäre mit ihrem Professor hatte, nein, sie überfährt auch beinahe dessen Frau und ist, wie es scheint, am Ende sogar schwanger. Raus, nur raus, denkt sie, als sie die kalifornische Uni kurz vor Abschluss ihrer Promotion flieht und schließlich in Templeton bei ihrer Mutter Vivienne aufschlägt, wer hätte das gedacht. Denn während die Autorin ihren Roman in der Vorbemerkung als Liebeserklärung an ihre Heimatstadt, an Cooperstown, ausweist, geht Willie diese Zuneigung völlig ab.
Templeton ist ein Dorf. Hier kennt jeder jeden, und doch verbirgt sich hinter der schnöden Fassade so manches Geheimnis. Eines davon betrifft Willie unmittelbar. Zeit ihres Lebens machte sie ihre Mutter glauben, Willies Vater nicht zu kennen, so sei es mit der Liebe eben gewesen, damals in San Francisco. Doch tatsächlich weiß Vivienne sehr wohl, wer Willies Vater ist, und siehe da – er lebt in Templeton. Zwar weigert sich Vivienne, ihrer Tochter einen Namen zu nennen, gibt ihr auf ihr Drängen hin aber einen Hinweis: Wie sie beide stamme auch Willies Vater von Marmaduke Temple, dem Gründer der Stadt ab. In der Suche nach der Identität ihres Erzeugers findet Willie eine willkommene Ablenkung.
Und so gräbt sie sich regelrecht hinein in die Vergangenheit des Ortes. Sie studiert zahlreiche Briefwechsel und Tagebücher, wälzt die Werke J. F. Temples, des fiktiven Zwillings James Fenimore Coopers, und lässt so einst verstummte Stimmen posthum zu Wort kommen. Unzucht, Scham, Intrige, Mord, Willie spült den gesamten Unrat an die Oberfläche: Eine Sklavin, die ihre Herren um den Finger wickelt wie Defoes Moll Flanders ihre Gönner, eine schwarze Witwe und eine Pyromanin, weg gesperrte Töchter und vernachlässigte Söhne; die Stadtgeschichte hat viel zu bieten.
Aber noch einmal zurück zum Anfang. Das tote Ungeheuer, ja, da war doch was. Groff verziert ihren Roman mit magisch-realistischen Mäandern. Neben Flimmy, dem Seeungeheuer, phantasiert sie einen Hausgeist und einen Feuerteufel mit übersinnlichen Fähigkeiten in ihre Geschichte hinein. Dadurch wird eine schauerliche, wenngleich auch wenig gruselige Stimmung befördert, die Templeton als wahrhaft wundersamen Ort erscheinen lässt und die Aura der Vergangenheit in das Jetzt hinüberrettet. Der Flimmerspiegelsee mit seinem prähistorischen Bewohner wirft Licht und Schatten hinaus ans Ufer. Ebenso wie Flimmy scheint auch Willie keine große Zukunft zu erwarten. Und doch kommt ihre Wiederkehr für die Templetonianer einer kleinen Sensation gleich: „Kaum war das Ungeheuer an der Oberfläche, kamen die Menschenmengen.“
Zeke Felcher, Willies ehemaliger Promnight-Prinz, die Laufkumpels aus der Nachbarschaft und Peter, der Stadtbibliothekar, geben sich redlich Mühe, Willies Stimmung aufzuhellen. Doch die zieht sich zunächst in sich zurück und taucht und taut nur langsam auf. Dann noch ein Schockmoment: Es scheint, als habe sie ihr Baby verloren. In Wirklichkeit jedoch war Willie niemals schwanger, die Diagnose: Grossesse Nerveuse – Scheinschwangerschaft. Eine biographische Repetition bleibt also aus, Willie muss die Verantwortung nicht tragen, die dereinst ihre Mutter trug. Dennoch erblickt in Templeton ein neues Leben das Licht der Welt: Ein kleines Seeungeheuer, Nachkomme eines Zwittertieres, versinnbildlicht eine Wendung der Dinge zum Guten. Denn die Autorin stolpert nicht, wenngleich sie manchmal etwas strauchelt. Und auch Willie ist erfolgreich; sie findet ihren Vater. Wer er ist, bleibt nachzulesen.
Lauren Groff hat ein ordentliches, ja ein blühendes Debüt geschrieben, vor allem aber findet sie für die Beziehung zwischen ihrer Heimat und der fiktiven Entsprechung ein treffliches Bild, das zum Träumen einlädt: „Mein Cooperstown verhält sich zu Templeton wie der Baum zu dem Schatten, den er wirft; ein Umriss, der die Beschaffenheit des Bodens annimmt, auf dem er sich abzeichnet.“ Immerhin, ein Umriss; und ein fruchtbarer Boden: Wenn doch nur ein mikrobengroßer Anteil der Dinge, die im kollektiven Gedächtnis des fiktiven Templeton einst friedlich vor sich hin schlummerten, auch in der Stadtgeschichte der Heimat des Rezensenten sich finden ließe – doch halt, wie sagt man, Schatten werfen keine Schatten.
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