Es sind ja nur Leichen
Gott ist tot. Oder vielleicht hat er nie existiert. Ist auch egal – Gebete werden trotzdem erhört, und zwar im Callcenter der „Himmlischen Heerscharen“, in dem eine Vielzahl gut ausgebildeter Engel und Dämonen nach tariflichen Verträgen arbeiten. Kein einfacher Job, vor allem wenn mal wieder irgendwo auf der Welt ein Tornado wütet und alle Drähte heiß laufen. Ansonsten funktioniert im Himmel das meiste wie bei jeder stinknormalen irdischen Hotline, bis hin zur automatischen Ansage in der Warteschleife: „Ihre Gebete können für Schulungszwecke und zur Qualitätssicherung aufgezeichnet werden.“ Es gilt die Sieben-Minuten-Regel; erfüllt ein Engel seine Quote nicht, gibt es Rüffel von Uriel, dem Abteilungsleiter.
Es sind genau diese kleinen Verschiebungen, die das Bekannte mit dem Absurden verquicken, die Laurie Pennys neuen Kurzgeschichtenband zu einem besonderen Lesevergnügen machen. Dabei ist das, was sie einem in „Babys machen“ serviert, beileibe nicht immer angenehm. Etwas anderes wäre von der scharfzüngigen Netzaktivistin, die den meisten als Bloggerin und Sachbuchautorin bekannt sein dürfte, auch gar nicht zu erwarten gewesen. Eloquenz und Wortwitz ihrer Streitschrift „Unsagbare Dinge“ (2015) ließen bereits erahnen, dass Penny das Zeug zur Prosa besitzt. Ein derart sprühendes Feuerwerk an fantastischen Einfällen und liebevoll ausgestalteten Universen übertrifft jedoch alle Erwartungen.
Was einem Callcenter-Engel so alles widerfahren kann, wenn er am Wochenende „weltwandeln“ geht und sich in den legendären Londoner Gay-Club „Heaven“ verirrt, sei an dieser Stelle nicht verraten. Nur so viel: Der flüssige Wechsel zwischen den Sphären, kleine Zaubertricks und wilde Zeitsprünge erlauben es Penny, den Ist-Zustand der jetzigen Welt aus allerlei ungewohnten Perspektiven zu beleuchten. Innerhalb von Minuten verliert unser Alltag alles Selbstverständliche oder vermeintlich Zwingende. Zeitreisende berichten von seltsam archaischen Gebräuchen, die uns stark an heutige soziale Realitäten erinnern, Rassismen und andere Formen der Ausgrenzung werden flugs auf fremde Planeten verlagert. Damit schließt „Babys machen“ – natürlich absolut auf der Höhe der Zeit – an eine lange Tradition feministischer Science-Fiction an, die leider ab den 1980er Jahren weitgehend in Vergessenheit geriet.
Manchmal bedarf es nicht mal übernatürlicher Elemente, um einen nachhaltigen Aha-Effekt zu erzielen. In „Wikinger-Nacht“ verkehrt Penny kurzerhand die Geschlechterhierarchien, um deren himmelschreiende Absurdität zu entlarven, und liefert zugleich eine frische und zeitgemäße Hommage an den feministischen Sci-Fi-Klassiker „Die Töchter Egalias“ von 1977. Ein hübscher junger Praktikant in engen Hosen wird zum Entertainment der schwedischen Kundin mit zum Geschäftsessen und anschließend in einen Strip-Club geschickt (in dem sich selbstverständlich knackige junge Männer für wohlhabende ältere Damen entblößen). Verzweifelt ringt der Knabe um Anerkennung, stößt aber immer wieder nur gegen die gläserne Decke – und muss dabei auch noch so tun, als hätte er unglaublich viel Spaß. „Beim Essen betreibst du ein wenig Smalltalk, doch zwischendurch verschwinden die Ladys zum Nasepudern auf die Toilette und reden über Geschäfte, während du die Vorspeisen bewachst.“ Der junge Mann als Schmuckstück und Sexobjekt, der das herablassende, übergriffige Verhalten der ihn umringenden Geschäftsfrauen ertragen muss, um in ihrem Kreis überhaupt geduldet zu werden, wirkt zunächst ziemlich lächerlich. Doch bleibt einem das Lachen schnell im Halse stecken, ersetzt man im Kopf einmal den Praktikanten durch die Praktikantin, die Geschäftsfrauen durch Geschäftsmänner – denn dann wirkt alles, was Penny in „Winkinger-Nacht“ schildert, plötzlich erschreckend normal.
Da die Autorin ganz offensichtlich ziemlich klare Vorstellungen von einer gerechteren Welt und einem besseren Zusammenleben hat, enden – trotz dystopischer Szenarien und allerlei morbider Einfälle – die wenigsten Texte in totaler Hoffnungslosigkeit. Mal schimmert eine farbenfrohe Parallelwelt durch die jetzige, aschgraue, mal lösen sich die Protagonist_innen schlussendlich aus ihrer Passivität. So zum Beispiel in der Geschichte um die junge Koboldin Kira, die in einer erbarmungslosen Leistungsgesellschaft aufwächst, in der Einwanderer und fremde Spezies aus der interplanetaren Föderation nur widerwillig geduldet werden. Gegen Ende wird sie es riskieren, ihre alles entscheidende Abschlussprüfung in den Sand zu setzen, indem sie, anstatt brav ihre Multiple-Choice-Fragen abzuhaken, einen zornigen Aufsatz über Kolonialismus und kulturelle Aneignungspraxen abliefert.
Von Sprach-Akrobatik hält Penny nicht viel, doch blitzen ab und an sinnlich-poetische Sätze auf, die hängenbleiben. Wie dieser hier aus Kiras Essay: „Wenn ich ein Stück eures Herzens probierte, würde es nach nichts schmecken.“
In ihren besten Momenten erinnern Pennys Texte an die des begnadeten US-Satiriker George Saunders – besonders augenfällig in der wohl zynischsten Story des Bandes, betitelt „Das Tötungsglas“. Hier kommt voll zur Entfaltung, was sich wohl am treffendsten mit „britischer Humor“ umschreiben lässt. Die Hauptfigur assistiert einem Serienkiller, der, seit in England der Serienmord als Kunstform anerkannt wurde, ganz offiziell vom Arts Council gefördert wird. Diese groteske Versuchsanordnung zeigt nicht nur, welche makabren Blüten unsere nie zu sättigende Sensationsgier in der Zukunft treiben könnte, sondern gibt der Autorin zugleich Gelegenheit, ihre Kritik an Klassendenken und Misogynie breitgefächert zu streuen. Denn das Arts Council erlegt den teilnehmenden Künstler-Killern durchaus strenge Richtlinien auf – so zum Beispiel: Hände weg von Schwangeren! Darauf die Ich-Erzählerin: „Wir dürfen so viele Frauen umbringen, wie wir wollen, solange wir keine Fleischklümpchen beschädigen, die zu Steuerzahlern heranwachsen könnten.“
Mögen manche Texte auch an die sprachliche Raffinesse eines Saunders nicht ganz heranreichen – ihr entschieden queer-feministischer Touch verleiht ihnen das gewisse Etwas. Mal ganz abgesehen von ihrer gesellschaftlichen Relevanz und fortdauernden Aktualität. Penny hat eine klare Message, die sie uns nicht nur theoretisch unterbreiten, sondern mit allen Sinnen spüren lassen will. Und wie schon ihre geistigen Schwestern vor 30 oder 40 Jahren erkannt hatten, ist hierfür die spekulative Fiktion das Mittel der Wahl.
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