"Mama, was heisst eigentlich 'feudalistischer Plunder'?"
Mit "Lotusfüsse" ist eine neue Graphic Novel von Li Kunwu ("Ein Leben in China") auf Deutsch erschienen. Sie schildert das Leben seines Kindermädchens, das der letzten Frauengeneration Chinas angehörte, die noch dem Brauch des Füsse-Einbindens zum Opfer fiel.
Die Wikipedia-Seite über Li Kunwu zitiert einen Rezensenten von Le Monde, der über die Trilogie "Ein Leben in China" schreibt: "Die Geschichte versucht weder die Realität zu beschönigen, noch ein Melodram zu erzählen." Dieser Befund trifft auch auf "Lotosfüsse" zu. Der Verfasser hat es auch hier unterlassen, seinen Stoff auf eine allzu eindeutige Pointe oder "Moral" hin zu organisieren. In expressiven Tuschezeichnungen und glaubhaften Dialogen erzählt Li Kunwu, unter wohlbegründeter Auslassung ihres Erwachsenenlebens, von Jugend und höherem Alter seiner Protagonistin Li Chunxiu.
"Lotusfüsse" orientiert sich insofern an den Konventionen des sozialistischen Realismus, als das Buch sich auf das Typische der Figuren konzentriert, es aus den individuellen Zügen und Umständen gezielt herausarbeitet; es wendet sich allerdings gegen diese Tradition erstens schlicht durch die gewählte "artistische" Form der Graphic Novel, zweitens dadurch, dass es wie gesagt kein eindeutiges "didaktisches" Ziel der Arbeit gibt - zumindest über die Erkenntnis hinaus, dass es wünschenswert ist, sich an Lebensumstände und Sachzwänge vergangener Zeiten zu erinnern, wenn schon nur, um die eigene Geschichte besser zu verstehen.
Das erste Drittel des Buchs erzählt von Kindheit und Jugend der Li Chinxiu im unmittelbar vorrevolutionären China, vom Entsetzen des Kindes angesichts des Füsse-Einbindens und vom schließlichen Akzeptieren der eigenen "Lotusfüsse" - und des mit ihnen einhergehenden Status als gefragte Heiratskandidatin - durch die junge Frau, zu der dieses Kind sich entwickelt. Freier überhäufen sie mit Geschenken; sie "hat Optionen". Bis hierher ähnelt die Geschichte jenen Biographien und Erzählungen von der Unfreiheit junger Frauen des 18. oder 19. Jahrhunderts in Europa, die von ihren Eltern einen gesellschaftlichen Aufstiegsauftrag mitbekommen - mit den "Lotusfüssen" als ungefährem Äquivalent des würdevoll zu tragenden, schmerzhaften Korsetts (das freilich irgendwann auch wieder abgelegt werden konnte).
Doch dann geschieht der Bruch, wird die so gut gelungene Integration des einst "widerborstigen" Individuums in die überlebte Feudalgesellschaft in Frage gestellt. Soldaten verkünden auf dem Marktplatz die neuesten Errungenschaften der Republik: Die Männer haben ihre Zöpfe abzuschneiden; das Binden der Füsse ist ab sofort untersagt; "Schluss mit arrangierten Ehen! Frauen sollen am öffentlichen Leben teilnehmen dürfen!". Statt nun dem Aufruf Folge zu leisten - der für sie als weithin berühmte Besitzerin besonders "attraktiver", weil besonders kleiner Füsse zur Folge gehabt hätte, als "abschreckendes Beispiel" vorgeführt zu werden - zieht Li Chinxiu zurück aufs Land, und zwar ironischerweise in Erfüllung jenes anderen revolutionären Aufrufs, der die Liebes- statt der arrangierten Ehe propagierte. Mit ihrem Jugendfreund, der nach den Regeln der alten Gesellschaftsordnung als potentieller Ehemann chancenlos war, aber mit dem sie viel verbindet, zieht Chinxiu "zurück aufs Land"; man plant, "Voraussetzungen zu schaffen" und dann zu heiraten.
Li Kunwu bildet, was daraufhin geschieht, dankenswerterweise nicht ab, sondern schildert es bloß in knappen Sätzen: Chunxiu wird von Unbekannten in ihrem Haus vergewaltigt, während ihr Verlobter unterwegs ist. Sie trägt Verletzungen davon, die sie unfruchtbar machen, und auf ihr Betreiben hin verlässt ihr Verlobter sie in weiterer Folge. Fortan lebt sie das Leben einer einfachen, zeit Lebens unverheirateten Bäurin.
Davon, wie diese einfache Bäurin, schon als alte Frau, die Rolle eines Kindermädchens im Haushalt eines strammen, aber nicht unsympathischen Parteikaders - des Vaters des Verfassers - ausfüllt, handelt das letzte Drittel der Graphic Novel. Das Potential einer krassen Gegenüberstellung des streng rationalistisch, antitraditionalistisch eingestellten Vaters, und der Repräsentantin des "einfachen Volks" aus vorrevolutionären Zeiten wird nicht als ideologischer Diskurs ausgereizt, sondern bloß angedeutet. Der Verfasser unterlässt es auch, hier ein Urteil zu fällen. Es geht ihm anscheinend darum, die Wirkung des Wechselspiels dieser beiden Instanzen auf die Entwicklung der Kinder - auf seine eigene Entwicklung - auszustellen: Kunwu schreibt keine Theorie-, sondern eine Alltagsgeschichte. Während der Kulturrevolution schließlich ist es ausgerechnet die Beschäftigung eines Kindermädchens mit eingebundenen Füssen, die den Büroleiter in Schwierigkeiten bringt, und Chunxiu zieht - erneut auf eigenes Betreiben, um niemandem im Weg zu sein - aufs Land zurück, wo sie später stirbt. Eine Art Coda bildet eine zeitrafferartige Schilderung der Entwicklung des Heimatdorfs von Chinxiu bis heute -
"1992 wurde Dounan ein wichtiger Standort für die Blumenzucht. Die weissen Plastikbahnen zogen sich bis zum Horizont. Die früher dort ansässigen Bauern leben nun in der Stadt. Das einstige Dorf Dounan nennt sich heute 'Internationale Blumenbörse Kunming'. (...)"
Die Stärke dieser Graphic Novel ist der glaubwürdige Gestus, zu schildern, "was war". Ihre Schwäche liegt darin, dass es sich gleichwohl notwendigerweise in den Details um ein Werk der Fiktion handeln muss. Die Inszenierung des Dokumentarischen ist gut genug, uns vergessen zu machen, dass es sich um Inszenierung handelt, was wir hier, denke ich, ebenso problematisch finden dürfen wie bei Filmdokus - aber dieses Problem wohnt dem Format und Vorhaben des Verfassers selbst inne, wir können es konstatieren, ohne dem Werk seinen Wert abzusprechen.
Besonders interessant erscheinen mir die Eingangskapitel mit ihrer Darstellung einer - für westliche Leser - "exotischen", aber dabei ungeschönten Lebenswelt, sowie die Szenen, in denen die Kinder des Büroleiters sich über die Stellung von "Nana" und Vater zueinander klar zu werden versuchen.
Kurzfassung: "Lotusfüsse" ist jedenfalls eine lesenswerte Graphic Novel für jeden, den die Geschichte Chinas interessiert, oder allgemeiner, die Geschichte der Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Sie hält durchgängig die Balance zwischen dem erwähnten konsequenten Verzicht auf Parteinahme und den Anforderungen des Mediums Comic, graphisch zuzuspitzen und zu überhöhen.
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