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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Open-Mike: vorbei

Die Finaltexte des Open-Mike in der Anthologie
Hamburg

Der Open-Mike ist vorbei, die Anthologie aber weiterhin als Buch im Handel. Es wäre doch schade, wenn es als bloße Dreingabe zum Wettbewerb behandelt würde und ansonsten unterginge.

Die Reihenfolge der Texte im Buch ist alphabetisch. Den Anfang macht also Philipp Böhm, mit seinem Romanauszug „Überbleibsel“, der Umfeld und Personal einer Fabrik beschreibt, in der Stoffreste verwertet werden. Der Text hat einen nie stockenden, aber auch sehr dünnen Sog; die Figuren (der Protagonist, die anderen Arbeiter, der Vorarbeiter und der Chef) sind die Hauptschaltstellen der Erzählbewegung. Allzu oft hat man das Gefühl, der Text greife einfach auf sie zurück, ohne in ihnen genug zu finden, was ihn interessiert. Das Bodenständige, das den Text durchzieht, ist wiederum sehr gelungen, die Atmosphäre stimmt. Vielleicht ist auch die fehlende Tiefe ein Ausdruck dieser Atmosphäre.

Ich weiß noch: als ich die Gedichte von Sandra Burkhardt beim Open-Mike hörte, mochte ich sie nicht. Mir waren die Stimmen zu fern, die sich bei ihr die Hand zu reichen schienen und sich in ungenaue Höhen und Tiefen erstreckten; das Mysteriöse und Metaphorische darin hielt ich für eine leere Täuschung. Ich muss diesen Eindruck revidieren. Es ist schlicht faszinierend, auf welch ausschweifende und gleichzeitig dezente Weise diese Gedichte mit Petrarca, mit dem Leser, mit sich selbst, mit Gegenständen, Hoffnungen und anderen, sich einschleichenden Spiegeln und Hüllen korrespondieren. Eigentlich wird zu keiner Zeit wirklich kommuniziert. Aber gerade das ist so verblüffend: Obwohl keine Kommunikation sich herauskristallisiert, kein Gespräch sich festmachen lässt, wird etwas gewebt, das ein sehr viel offeneres Gespräch ergibt, bei dem jede_r teilnehmen kann.

Thilo Dierkes Text „Von Ajaccio her“ beginnt unscheinbar und seltsam. Wer spricht da jemanden mit Josephine an und hält sich anscheinend für Napoleon? Der Text schleicht sich an, zoomt heraus, zoomt heran. Langsam, und dann doch sehr schnell, erkennt man die Stürme in den Zeilen, und das Unscheinbare und Seltsame wandelt sich, wird zu erzählerischer Kraft, eine gnadenlose-grandiose Abrechnung hat begonnen, schon bevor man es bemerkte und ist jetzt im vollen Gang, konterkariert von den harmlos und idyllisch wirkenden Kleinstadt-Intermezzos, die nur den Druck verstärken auf die leidenschaftlichen Zeilen der Stimme, die an Josephine schreibt, die verlangt und verabscheut, die abrechnet und ihre Unverstandenheit mit Worten zu kompensieren sucht. Ein wunderbarer Text, den jeder lesen sollte, und zurecht einer der Gewinner des Open-Mike 2016.

Özlem Özgül Dündar Auszug mit dem Titel „Die Luders“ wollte mir schon bei der Lesung nicht ganz einleuchten. Dieses Knallharte, das da aufgefahren wird, dieses Bitch-und-Brutalo-Image, das im Zentrum steht: soll das unterhalten, ist das Gesellschaftsbetrachtung, Gesellschaftskritik oder einfach nur Nährgrund für ein bestimmtes Sprechen, eine coole Handhabung von Sprache, zu der es halt auch eine Geschichte braucht? Krawallsehnsucht der Pubertät, Randexistenzdasein, das sich wehrt – Elemente und Themen, die ich nachvollziehen kann, und vielleicht würde bei der Lektüre des Gesamtprojektes auch ersichtlich, inwieweit diese Facetten nicht nur an der Oberfläche bleiben, sondern tiefer gehen. Innerhalb dieses Ausschnitts bin ich mir da nicht sicher und bleibe zwiegespalten. Der Drive stimmt, aber da sitzt eine Geschichte am Steuer, die mich nicht drankriegt, an der mir wenig liegt.

AutorInnen sind auch BeobachterInnen, und eine gute Beobachtung bereichert jeden Text. Dennoch habe ich manchmal ein Problem mit einer bestimmten Art von Detailversessenheit, die den Text nicht wirklich voranbringt, sondern eher angewandt wird, weil es eben geht, weil man den Text anhalten und alles beschreiben kann, was der Erzähler sieht. Auch die leichte Sentimentalität in Sabine Gisins „Du bist dem Fels entsprungen“, sowie einige schiefe Bilder (Blicke schlittern über Wangen) lassen mir den Text unausgegoren erscheinen. Auch die Story schwappt nur zu mir herüber, rauscht um meine Füße, keine hohen Wellen oder tiefen Abgründe tun sich auf. Falls es etwas Brisantes in diesem Text gibt, entgeht es mir.

Die sinnentleerte Gesellschaft, das ist so eine Halbwahrheit, die uns das Feuilleton manchmal zuwirft. Wir fangen diese Halbwahrheit dann auf und stellen sie in einem Winkel unseres Hirns ab, von wo wir sie in einem Moment der Melancholie oder des Abscheus hervorholen und als knallharte Phrase ausspucken können. Berit Glanz' Text „Inkubator“, in dem es um das Team eines Start-Up-Unternehmen geht, ist eine literarische Halbwahrheit. Vielleicht sind Start-Up-Teams wirklich so, vielleicht ist das Ganze eine parodistische Einlange – so oder so kommt dabei kein Text heraus, der mich irgendwie berührt oder mich sprachlich von den Socken haut. Er sagt mir nichts über mich, und ich denke auch nicht, dass er irgendwas über die Gesellschaft oder meine Generation offenbart. Im schlimmsten Fall erzeugt er eine weitere diffuse Halbwahrheit. Der Text ist wie ein Feuilleton-Artikel, an den ich mich vielleicht erinnern werde, sollte ich einmal von der Selbstgefälligkeit eines Start-Up-Unternehmers genervt sein. Dann werde ich reflexartig denken: Ich weiß ja, die sind auch nicht so toll, die haben sogar echt Probleme, sind eigentlich lächerlich, was für Spinner. Aber so will ich nicht denken.

Die sehr natürliche, ungeschönte, unverbrämte Art, in der sich Lisa Goldschmidts Gedichte entfalten, verblüfft mich. Es sprudelt etwas in mir, es rauscht etwas in mir, frei, wenn ich diese Gedichte lese. So simpel erscheinen die Elemente, so dicht ihre Verbindungen, so hoch ihre Verbindungen, so voll ihre Verbindungen. Das Sinnliche: verhandelt und gleichzeitig schon versinkend. Am Ende bleibt alles glatt, nichts sticht wirklich hervor. Eine perfekte, tiefe Oberfläche.

Eine gelungene Art Sprache so zu handhaben, das sie ihrem Leser immer einen Schritt voraus ist, kommt mir aus dem Gedicht „Schwesternsitz“ von Marit Heuß entgegen. Ich rätsle ob der Verwandtschaft zwischen ihrem Text und denen von Emily Dickinson, die sie anruft, ausbreitet, inszeniert geradezu. Ein endloser Monolog, dem ich die meisten Aussagen abnehme, aber bis zuletzt kann ich nicht an die Bewegung glauben. Die peinliche Not des Rezensenten, der sich nichts aus den Fingern saugen will, aber auch nicht einfach sagen kann: „Lest doch selber! Da ist sicher was drin, aber ich finde es nicht.“ Man müsste die Bezüge vielleicht halmklein abklopfen. Es bleibt in mir das Gefühl zurück, dass man sich zwar zur Schwester von Emily Dickinson erklären kann, dann steht man aber automatisch in ihrem Schatten, nicht in ihrem Licht.

Kristin Höller weiß es nicht, aber sie hat mir damals den Abend gerettet, beim Open Mike. Viele Texte fand ich beim ersten Anhören unerträglich oder zumindest schwierig. Aber ihr Text hat mich mitgerissen, auch jetzt beim Lesen weiß ich noch wieso. Erzählt wird von einer einfachen, unspektakulär anmutenden Bett- und Liebesgeschichte, zugespitzt und kombiniert mit einer herrlich aufgezogenen Imbissschlägerei. Man entwickelt schnell eine starke Sympathie gegenüber den Figuren, der beschriebenen Wirklichkeit, der Art des Textes. Das hat mit der Sprache zu tun, aber auch damit, dass die Gefühle des Protagonisten, seine Unsicherheit und seine bewundernde Verliebtheit, genau in der richtigen Dosierung in den Text einfließen. Sie werden dort fixiert durch Gedanken und Betrachtungen, die, so scheint es mir, sehr gut die nicht ganz auszudeutende, nicht wirklich ausgesprochene Übereinkunft einfangen, die zwischen zwei Menschen besteht, die etwas miteinander haben, miteinander ins Bett gehen und einander auf eine bestimmte Art wertschätzen und brauchen. Isi, das G‘spusi, erscheint einem nicht als Angebetete oder als übergroß, sie tritt ganz als sie selbst auf. Der ganze Text biedert sich nirgendwo an, arbeitet gekonnt mit seiner Sprache, berührt leicht – und macht einfach Spaß!

Ein bestechender Duktus, eingängig, schneidend auch, unnachgiebig, mit einem Hauch Hilflosigkeit. Die Bewegung von Cornelia Hülmbauers Lyrikzyklus „MAU OEH D“ breitet Inbegriffe eines Eingezwängt- und Ausgeliefertseins aus. Rückständige Vorstellungen von Weiblichkeit werden schmerzlich angespielt und schlingen sich um die Bilder, dazwischen immer wieder Übergriffe und Gewaltsplitter. Die Figur des Mädchens – dem die Mutter sich nicht mehr zuwendet, nicht mehr richtig, daneben noch ein Vater, ein bloßer Klotz nur noch – es gibt kaum Raum für sie, als Mensch; als Objekt, als Angriffsfläche, als Schnittmenge wird sie umkreist, ein zweifelhafter Onkel, dominant, steuert permanent seine Präsenz bei, die auf Missbrauch hinauszulaufen scheint und ausgehöhlte, mit Resignation behauene Sprichwörter, versuchen den längst pervertierten Schein zu wahren. Was in diesem Werk immer weiter – rhythmisch aufgetragen und genauso unterwandert – verdichtet wird, ist eine Wirklichkeit, die einem Ersticken gleicht, die einen Ausbruchswunsch verdichtet und gleichzeitig die Unmöglichkeit von Ausbruch zwischen seinen Zeilen knacken und erstarren lässt. Ein beeindruckender Text, eine starke Erfahrung.

Wo man dazugehören will, da wird auch die Erfahrung gemacht, dass man den Anderen völlig fremd ist, dass Details, die man für unwesentlich innerhalb des Wunsches nach Gemeinschaft hielt, unüberbrückbare Gräben aufreißen. Man glaubt dann vielleicht, man könne sich einfach anpassen, um so zu werden wie die anderen, und das sei genug, um aufgenommen zu werden. Doch es gibt Grenzen, die können nicht überwunden werden. So weit kann man nicht springen, von sich aus in einen anderen hinein, den man darstellt, der man vielleicht sogar werden will, es würde einen zerreißen; der Mensch ist durch das Unmögliche von mancher Möglichkeit getrennt, wie René Char in einem seiner Gedichte schrieb. Die Erfahrung, die ich hier zu umschreiben versucht habe, kann man sehr genau in Demian Lienhards „Am Drin“ besichtigen, miterleben. Ein nicht unbedingt spektakulärer, aber auch nicht steriler Text, der sich die Zeit nimmt, diese eine elementare Erfahrung ganz langsam herauszuarbeiten. Sehr lesenswert.

Ja, Arnold Maxwill ist ein hervorragender Entwickler von sprachlicher Verdichtung, sprachlichem Waagehalten, sprachlicher Resonanz. Klanglich sind seine Gedichte so etwas wie ein kleiner Leckerbissen. Assoziationsräume tun sich auf allen Eindrucksflächen auf, viele aufregende Metaphern und Verbindungen. Und das alles berührt mich nicht. Ich will mich gar nicht lange aufhalten und auch gar nicht scharf urteilen; von einer Seite betrachtet ergeben diese Gedichte poetisch sehr viel Sinn. Von einer anderen Seite aus betrachtet, bei der man von Dichter_innen vielleicht verlangt, dass sie eine gewisse Nähe zu ihrem Stoff haben sollten, dass sie auch etwas entwickeln mögen und nicht nur frappierende Fragmente präsentieren – von dieser Seite aus betrachtet, haben diese Gedichte nicht viel zu bieten. Ich habe auch versucht, sie als Annäherung an das Phänomen des „Ortes“ zu lesen. Nico Bleutge ist das beispielsweise hervorragend in „verdecktes gelände“ gelungen, mit einer ähnlichen Bewegung. Aber auch diese Lesart funktioniert meiner Ansicht nach nicht.

Am Anfang nerven mich die zahllosen Anspielungen auf unser Zeitalter, doch am Ende komme ich nicht umhin, sie als gelungenes Accessoire für den Text zu sehen, als guten Treibstoff für die Atmosphäre und das Setting. Freundschaft und Abschied sind zwei Themen, die schnell unter Kitschverdacht stehen – umso schöner, dass Christian Mitzenmacher in seiner Geschichte „Chiquita“ eine zwar nicht unsentimentale, aber innerhalb dieser Sentimentalität sehr glaubwürdige Bearbeitung geglückt ist. Mehr ist kaum zu sagen, es ist einfach eine gute Geschichte, bei der Ort, Aufbau und Verlauf gut zusammenpassen. Man kommt schnell rein in den Text. Durch die immer wieder aufgeworfenen gemeinsamen Erinnerungen, Insiderscherze und Erlebnisse der geschilderten Gruppe wird man an seine eigenen Freundschaften, seine ganz eigene Geschichte mit Abschieden erinnert. Der Text wird zum Archetyp einer Szene, in deren Ausformungen man sich selbst schon mal befand. Und spiegelt die Schwierigkeiten wider, die sich in solchen Momenten auftun; und die Nähe, die zwischen allem steht: als Hindernis, als Sog.

Ein Loch taucht auf, mitten in den Wäldern von Ahrensburg, ein perfektes Loch von unvorstellbarer Tiefe – und damit beginnt die wilde Fahrt, ein metaphysisches, aberwitziges, heftiges, zärtliches Epos, voller erstaunlicher Momente der Schönheit, unterlegt mit einem dunklen, bedrohlichen Soundtrack. Rudi Nuss‘ „kurze Szenerie mit Loch.“ ist phantastisch, aber auch realistisch. Sie verschmilzt diese beiden Kategorien (auch unter Zuhilfenahme von Anspielungen auf Massenphänomene, Popkultur und spirituellen Einschüben) zu einem Wirklichkeitskonzept, das ebenso beängstigend wie beruhigend wirkt.

Es geht um unglaublich viel in diesem Leben, das so sinnlos ist

flüstert der Text einem zu; und da ist diese verrückte Welt, voller Fluchtphantasien, voller Fanatismus, und außerdem ist da dieses Loch, in dem alles enden wird, dem man nicht gegenübertreten kann. Oder vielleicht doch? Denn so sehr diese Szenerie nach einer Dystopie aussehen mag – in der Traurigkeit und der Hilflosigkeit ihrer ProtagonistInnen blüht immer noch die Hoffnung auf eine besser Welt, vielleicht hinter dem Loch, vielleicht ja auch schon davor.

Berührend still. Ich trau‘ mich kaum, über den Text von Deniz Ohde zu schreiben, so tiefgehend empfinde ich ihn. Es ist schwer, einen Punkt zu finden, an dem man einhaken kann mit so etwas wie einer „Besprechung“ oder gar einer „Kritik“. Der Punkt, von dem aus erzählt wird, ist ein existenzieller, und dieses Wort sollte man im vorliegenden Zusammenhang ernst nehmen: Existenziell und schmerzlich. Und wie sehr diese beiden Dinge zusammenhängen, wie sehr Leben und Schmerzliches-Unumgängliches verknüpft, versponnen, zusammengewachsen sind, zeigt dieser Text. Er trägt es in die kalte Luft einer Mutter-Tochter Geschichte. Und bringt auch eine Erleichterung, so schmal, so klar.

Man muss die Leichtigkeit bewundern, die André Pattens Text „Herr Wohlfahrt“ innewohnt; man schreitet, ohne dass es je holprig wird, durch diese Geschichte, in der ein Endzwanziger in einem Baumarkt jobbt, wobei er eine zweite Identität namens Herr Wohlfahrt entwickelt. Das Lächerliche spielt eine Rolle, auch ein bisschen entlarvend ist der Text, aber beides ist letztlich nur dezent vorhanden. Die Machart ist gekonnt, die Bewegung flüssig, kleine Pointen pflastern den Weg, und zu keinem Zeitpunkt ist die Darstellung unglaubwürdig. Am erfrischendsten ist aber, dass Patten keinen Kommentar einflicht. Nicht einmal seine Protagonisten reflektiert die größeren Zusammenhänge, aus denen sich die eigentlich absurde, aber doch sehr folgerichte Lage ergibt, in der er sich mit seiner Job-Persönlichkeit befindet. Argumente, Konsequenzen und Schlussfolgerungen bleiben ganz dem Leser überlassen. Einzig schade ist, dass der Text wegen dieser Verfahrensweise wenig aufregend, wenig stimulierend wirkt.

Ich habe lange überlegt, was man zu Julia Powallas Geschichte „Unter den Eichen“ sagen kann, außer, dass sie in ihrer eigenwilligen Art sehr schön ist. Es hat auch etwas Raffiniertes, wie sie mit bestimmten Ebenen der Wahrnehmung jongliert. Das Zentrum jedes Moments ist nicht ganz freigelegt, man bekommt die Existenz der innersten Kreise mit, aber sie bleiben unangetastet. Eine Protagonistin, unbekannt und doch vertraut; Schilderungen einer „alternativen“ Siedlung im Wald. Sehr gut beschrieben: ein Aufkommen von Begehren und Anziehung. Willkürlich und natürlich, immer liegen sie dicht beieinander in diesem Text, diese beiden Worte. Man kennt nur einen Teil der Geschichte, selbst nachdem die zentrale Offenbarung des Textes geschehen ist. Und fragt sich immer noch, wer diese Protagonistin ist … ein Rätsel, ebenso schön wie enttäuschend.

Ich bin hineingetaucht und beinahe sprachlos geworden vor so viel Erzählkraft und Witz. Benjamin Quaderers Auszug „Für immer die Alpen“ ist ein kleines Wunderwerk, ein Reise in das Unnahbare, Wunderliche der frühen Kindheit, mit einem Blick für das Komische und das Magische in den einfachsten Regungen und Wünschen. Es ist wahr, was ich jemand anders über den Text habe sagen hören: dass man immer noch mehr hören will, unbedingt weiterlesen will. Ich hoffe, dieses Kompliment reicht aus, um zu zeigen, wie glücklich ich bin, dass ich diesen Text kennenlernen, hören, lesen durfte.

Streuend, streuend, streuend. Es kommt mir vor, als würde Felix Schiller mich zustreuen mit seinen Worten, als würde ich auf (und in) lauter kleinen Kügelchen, die Worte und Klangassoziationen sind, gewiegt, wie auf einem riesigen Bällebett oder Bällemeer. „gastierende saaten“ heißt der Gedichtzyklus, und so wuchernd wie die Texte sind, so sehr ist jedes Wort auch nur ein kleiner Same, gestreut von leichter, und doch von schwerer Hand. Es soll aber nicht so klingen, als wären die Gedichte bloße Staffage. Hier werden Fragen aufgeworfen, umgepflügt und aufgeschüttet. Letztlich werden sie einem sogar um die Ohren gehauen, zwischen den Zeilen. Man könnte meinen, der Ernst ginge verloren in dem spielerischen, viele Kurven nehmenden Schwung der Verse – aber eigentlich schiebt er sich in den Vordergrund, so empfinde ich es.

Saskia Warzechas Lyrik zerfasert und zerfasert doch nicht. Denn jeder ihrer Sätze sagt mir etwas, ist nicht nebulös, keine geheimnisvoll-verlorene Instanz legt sich zwischen mich und das Geschehen. Unbestimmtheiten, viele, ja, aber sie durchflirren nicht einfach den Raum, fließen überflüssig dahin – stattdessen legen sie eine Aussagekraft an den Tag, die einen immer wieder einholt, heranholt, kneift. Manchmal verengt sich das Spektrum zu sehr, dann scheitert die Verdichtung ganz kurz. Doch dann macht die Sprache wiederum aus einem einfachen Element ein Panorama – und faltet es gleich wieder zusammen, rückt weiter vor. Könnte man Lyrik irgendwie als Film denken, würde ich sagen: die Kameraeinstellungen sind durchgehend stark, ungeheuer eindrücklich. In den Dialogen stimmt jedes Wort. Was Lyrik erreichen kann, wie sie Sätze in deine Hirnwindungen übertragen kann, mit Bildern an Bord, für die deine Pupillen keine Frequenz zu haben scheinen, das kann man in diesen Gedichten erleben.

Eine traurig-profane und dennoch äußerst lebendige Schilderung, im Prinzip ein Aufgreifen des Mauerblümchen-Themas, nur noch karger gehalten als in den meisten anderen Varianten: Lea Wintterlins Geschichte „Turtle“ gefällt mir sehr gut, das ganze Instrumentarium von Urlaub, flüchtiger Bekanntschaft, Theater und Tristesse fügt sich perfekt zusammen. Und es ist beeindruckend, wie sie die Unsicherheit ihrer Protagonistin allein durch das Geschilderte auszudrücken vermag, wie man die Befangenheit, die Pein und die Widrigkeiten ihrer Existenz nachempfinden, den Wunsch aus ihrem eigenen Dasein, ihrer eigenen Starre auszubrechen, verstehen kann. Es ist schwer den Weg zu einer anderen Art von Umgang zurückzulegen, aus sich herauszugehen und wenn man damit scheitert, wird alles noch mal sinnloser – diese Erfahrungen fängt die Autorin gut ein. Ein Text, den ich vermutlich noch öfter lesen werde. Trotz seines tristen Themas gibt er mir das Gefühl, dass man mithilfe von Geschichten, von Literatur, Wesenszüge und Erfahrungen (mit)teilen, vom Menschlichen an sich erzählen kann.

Chapeau Christof Zurschmitten! Sein Text – wie ein Tatsachenbericht aufgezogen, eine Reportage, aber dennoch mit den Feinheiten einer Erzählung ausgestattet – hat mich von allen Texten am meisten überrascht. Ich könnte jetzt davon faseln, dass es mutig ist, sich der Themen Fleischkonsum und Verantwortung anzunehmen, über humane Tötungsmethoden und Sympathie für die noch lebendige, eigene Mahlzeit zu sprechen. Aber mutig ist vielmehr, dass Zurschmitten dies ohne falsches Pathos, ohne Rechtfertigung oder moralischen Zeigefinger, mit Ambivalenz und ohne falsche Scheu vor Emotionen tut. Das Thema ist stark aufgeladen, aber ihm gelingt eine Gratwanderung, die beim Eigenen bleibt, nicht zu weit ausschweift. Ein toller Text.

Schon das Vorwort von Inger-Maria Mahlke, das sich an die Autorinnen und Autoren wendet, könnte vergessen lassen, dass die Anthologie durchaus auch ein Buch für Leser ist, nicht nur für Teilnehmer und Zuhörer. Nachdem ich viele Texte gehört und nun alle gelesen habe, fällt meine Empfehlung deutlich aus: In diesem Buch ist viel an junger, deutschsprachiger Literatur enthalten, das man nicht versäumen sollte. Lesen, lesen, lesen, liebe Leute!

Beteiligte an der Ausgabe: Philipp Böhm, Sandra Burkhardt, Thilo Dierkes, Özlem Özgül Dündar, Sabine Gisin, Berit Glanz, Lisa Goldschmidt, Marit Heuß, Kristin Höller, Cornelia Hülmbauer, Demian Lienhard, Arnold Maxwill, Christian Mitzenmacher, Rudi Nuss, Denis Ohde, André Patten, Julia Powalla, Benjamin Quaderer, Felix Schiller, Saskia Warzecha, Lea Wintterlin, Christof Zurschmitten,

Literaturwerkstatt Berlin (Hg.)
24. open mike
Allitera
2016 · 188 Seiten · 12,80 Euro
ISBN:
978-3-86906-950-0

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