Essays und Kritiken aus der Mitte Europas
Gibt man den Namen Klara Blum bei Google ein, spuckt die Suchmaschine unzählige Links zur Tatort-Darstellerin Eva Mattes aus. An Informationen über die weitaus interessantere, da nicht-fiktive Klara Blum, kommt man nur, wenn man sich gezielt auf Spurensuche begibt.
Die in Czernowitz geborene Schriftstellerin ist indes nur eine von vielen mitteleuropäischen Literaten, die im deutschen Gedächtnis allenfalls eine Statistenrolle spielen. Symptomatisch ist die Tatsache, dass die Tatort-Figur nur rein zufällig eine Namensvetterin der jüdischen Wahl-Chinesin Klara Blum/Zhu Bailan ist. Lothar Quinkenstein ließ und lässt diese scheinbar konsequente Marginalisierung osteuropäischer Schicksale und Sichtweisen im historischen und literarischen Diskurs in Deutschland keine Ruhe. Ihnen widmete er daher seinen kürzlich im Röhrig Verlag erschienenen Band mit Essays und Kritiken „aus der Mitte Europas“, die, wohlgemerkt, nicht etwa in Berlin liegt, sondern in Warschau, Lemberg und Prag.
Von persönlichen Erinnerungen an seine saarländische Kindheit, an seine ersten Jahre als Lehrer in Polen ausgehend, wirft er Fragen auf, von deren Dringlichkeit der Leser vorher nur eine vage Ahnung hatte. Es sind Fragen, die nicht selten seinen über mitteleuropäische Landschaften streifenden Gedanken entspringen: Was wird jungen Leute heute, was wurde ihnen vor 30 oder 40 Jahren über die europäischen Juden vermittelt? Was wissen die Deutschen über polnische Widerstandskämpfer, über polnische Erinnerungskultur? Und wie fühlt sich Heimat für die Vertriebenen an, für die von nationalsozialistischen und stalinistischen Schrecken Heimgesuchten?
Mitten in das ratlose Schweigen, das auf Fragen wie diese folgt, spricht Quinkenstein von Klara Blum und anderen mitteleuropäischen, oft polnisch-jüdischen Poeten, Freiheitskämpfern und Autoren lakonischer Fiktion und aufwühlender Memoiren. Nicht immer, aber häufig vertreten sie unbequeme Wahrheiten: in ihrer Eigenschaft als Veteranen der polnischen Heimatarmee, als Juden, als Exilanten, für die das idyllische Konstrukt „Heimat“ wortwörtlich boden- und substanzlos wird, wie Quinkenstein im Essay „Heimat, deine Mythen“ so treffend beschreibt. Ihn interessieren die notorisch kritischen Querdenker und modernen Mystiker, die leisen Nachkriegsdokumentare und die aschkenasischen Literatur-Schwergewichte, die eben nicht das zweifelhafte Glück hatten, von der US-amerikanischen Presse gefeiert oder auch nur angemessen im westeuropäischen Feuilleton rezipiert zu werden.
Der Autor spannt dabei den Bogen von den Vierzigerjahren bis in die Jetztzeit: Jan Karskis und Emanuel Ringelblums Echos erklingen aus dem tiefen Dunkel des Warschauer Ghettos, das mit Fug und Recht viel (Gedenk-)Raum in den Texten einnimmt. Das 21. Jahrhundert vertreten indessen Sylwia Chutniks „weibliche Gegengeschichte“ des polnischen Widerstandes sowie Irina Brežnás Emigrationserfahrungen. Berührungspunkte zwischen den diversen Biografien und Topographien sind mannigfaltig, aber bei weitem nicht so beliebig, wie es zunächst den Anschein hat.
Nehmen wir als Beispiel “Place Stanislas“, die große Ouvertüre des Essaybandes, die gleichzeitig eine mentale Rückkehr an den Ort Mielec ist, an dem sein langjähriger Aufenthalt in und seine anhaltende Liebe zu Polen ihren Ausgang nahmen. Werke des polnischen Literaturkanons, denen er sich dort widmet, noch mühsam mit Wörterbüchern kämpfend, führen ihn tief in die jüngere polnische Geschichte, und unweigerlich auch zur Wiederbewusstmachung der Hartnäckigkeit, mit der sich in Deutschland Ressentiments und antipolnische Stereotypen halten. Und bereits im ersten Text hält Quinkenstein mit wunderbarer Selbstverständlichkeit Gedanken zu Fragmenten jüdisch-polnischer Kultur fest: ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch seine Essays zieht und das erstaunlicherweise im Klappentext nicht explizit Erwähnung findet.
“Postume Landschaften“ werden auf den Spuren Jerzy Ficowskis durchwandert, des Lyrikers und Biografen von Bruno Schulz, den nicht zu kennen ein großes Versäumnis ist. In dem etwas längeren Essay „Bruno Schulz, Kabbalist der Moderne“ wirft Quinkenstein nicht nur ein Schlaglicht auf dessen interessantes Verständnis von Kunst. Er macht auf kabbalistische Motive und Anspielungen im Werk des polnisch-jüdischen Autors aufmerksam, die alles andere als augenfällig sind. Zusammen mit den sensibel gelenkten Einblicken in Ficowskis eigenes lyrisches Werk zählt dieser Exkurs zu den Glanzstücken des Bandes.
Das sich thematisch anschließende Kapitel über die jiddische Dichterin Debora Vogel hätte zwar ein wenig länger sein können. Dass die Schriftstellerin und Doktorin der Philosophie hier nun aber als eigenständige Künstlerin gewürdigt wird, stimmt optimistisch, denn viele wollen in der Lemberger „Text-Malerin“ oft nicht mehr als Bruno Schulz‘ Muse sehen, wie der Autor selbst hervorhebt.
Nicht minder spannend ist der Beitrag „Rivers of Babylon“. Vom gleichnamigen Boney M.-Song und dem TV-Vierteiler „Holocaust“ ausgehend, stellt Quinkenstein nicht nur zur haarsträubend lückenhaften Darstellung jüdischer Geschichte in deutschen Lehrbüchern Überlegungen an. Immer wieder kehrt er auch zu seinem Ausgangsgedanken zurück, der von der Shoah-Erinnerungsproblematik vielleicht nicht so weit entfernt liegt: denn zu Recht darf man fragen, wie es sein kann, dass deutsche Kulturkonsumenten kaum je mitbekommen, wie stark Jüdisches in der Popkultur stets vertreten war und es nach wie vor ist.
Nicht-Judaisten und Nicht-Polonisten wird es, man muss es sagen, nicht immer einfach gemacht, den vielen Referenzen und Anspielungen zu folgen. Die fast überwältigende Fülle an Faktenwissen wird jedoch durch eine große sprachliche Treffsicherheit und eine bisweilen poetische Dichte zusammengehalten. Erratisch und halbgar ist hier nichts, das dürfte auch Neueinsteigern in die doch sehr spezielle Thematik vieles erleichtern und auch ihnen eine bereichernde, nachdenklich machende Lektüre bescheren. Dass Lothar Quinkenstein wichtige Wissenslücken schließt, kann ihm nicht hoch genug angerechnet werden, da ein solcher Einblick in das Herz Europas längst überfällig gewesen ist.
Frische Neugier auf Themen, Gesichter und Geschichten jenseits des östlichen bundesdeutschen Tellerrandes ist als Wunschgedanke in jede Seite des Bandes eingeschrieben. Polen ist am Ende doch mehr als ein nur ein „Tatort“, und Mitteleuropa alles andere als europäische Peripherie. Die zum Weiterlesen anregende Erinnerung an Klara Blum, Bruno Schulz und ihre Geschwister im Geiste trägt auf großartige Weise dazu bei, dass einer deutschen Leserschaft genau dafür die Augen geöffnet werden.
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