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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Schnelle Drücker / Hadi Hugs

Hamburg

Die Tradition des Langgedichts hat bei Lütfiye Güzel Konjunktur. Nach ihren ersten Bänden "Herzterroristin", "Let's go Güzel", "Trist Olé" und "Pinky Helsinki", die lyrische Aufzeichnungen, Prosa und Fragmente verbinden, legte die Duisburgerin im letzten Jahr ihr erstes bandfüllendes Langgedicht "Hey Anti-Roman" vor, dem nun vor einigen Monaten der emotionale Nachfolger "Hadi Hugs" gefolgt ist. Das "Selbstgespräch" untertitelte Gedicht ist "den traurigen" gewidmet, und es ist exakt diese Stimmung, die schon mit den Worten "Hadi", also dem türkischen "Davai!", "Dale!" oder dem hiesigen "Los geht's!" in der ersten Titelzeile einsetzt, plus einem dazugehörigen Abschied, das "Mach's gut!", reingeschwemmt von einem einsilbigen "Hugs", also dem unverbindlichen "Drücker". Tja. Dann also los. Mach's gut. Wir lesen von einem lyrischen Ich, das einen Blick nach draußen wirft, schmale Worte findet für das, was dort vor sich geht, um am Ende wieder zurück- und in sich zu kehren, bei sich zu bleiben. In schnellen Versen, die, undergroundgeschult, schneidend und minimalistisch, das abstrakte Moment meiden und in annähernder Selbstauflösung und Verzweiflung konkrete Spiegelbilder jenes Draußen entwerfen, beschreibt Güzel einen Schwall, fast einen Rap, aus ineinander übergehenden Situationen des Alltäglichen, aus (Nicht-)Begegnungen und Stimmungen in einer an nature morte erinnernden defekten Stadtstaffage.

früher gab es mich zweimal
die eine schaute raus aufs meer
und die andere ertrank
der müll macht mir sorgen weil die
mülltonnen im keller stehen und ich
angst habe dass mich der nachbar sieht
beim runter- und aufsteigen der
kellertreppe
deshalb warte ich bis es dunkel wird
denn wenn er im hausflur steht wird er
das licht einschalten
das ist dann mein stichwort
ich könnte schnell wieder zurück in mein
zimmer laufen
mich zwölf schritte wie abfall fühlen

und dann die tür hinter mir schließen
mit dem beutel in der hand
manchmal lehne ich an der wohnungstür
und schaue durch den spion
der nachbar ist eingekreist und springt

raus und rein in den kreis während er den hausflur
fegt
ein bisschen arm
ein bisschen bein
ein alter mann der im winter mit der
schaufel in der hand die schneeflocken auffängt

noch bevor sie auf den boden
fallen können

und

auf der fensterbank
eine braune hauswand und unten drei

fahrräder
doch so etwas wie ein ausblick

ich schalte den fernseher ein
das ist das zweite was ich tue nach dem
aus-dem-fenster-schauen
dann bin ich traurig
damit drei punkte abgehakt

und keine weiteren pläne

Je weiter der Leser vordringt, desto sogartiger wird das Gefühl eines Strudels, eines Abgrunds aus Routinen und Wiederholungen, die der Blick streift, wie eine Fotoausstellung ohne Rahmen, bei der die Bilder unerklärlicherweise so lange miteinander verschmelzen, bis dass der Strom der Wörter plötzlich versiegt und nichts mehr ist.

der letzte satz ist scheiße
aber es ist ein ende

schreibt Güzel. Es wäre bisweilen schwierig, "Hadi Hugs" in angemessenem Tempo zu lesen – zu zwangsläufig in der permanenten Abwärtsbewegung stehen die Verse – wenn nicht alle paar Seiten der Fluss unterbrochen würde von selbstmontierten Collagen aus Text und Bild, die, bisweilen konterkarierend, die trübselige Stimmung trashig aufbrechen und daran erinnern, dass hier ein reflektiertes Schreiben am Werk ist, das nur scheinbar atemlos in einen Rausch aus Abschieden gerät.

auf der flucht ist die richtung nie daneben
du bist nicht klüger nur weil du zweifelst
auch das ist in den kopf reingedruckt
philosophieren ist so schön
mehr braucht man nicht zu tun

nichts tun
ich bleibe nach vorn hin dunkel und im hinterhaus
erfinde ich mich neu
die welt ist eine kugel
d.h. wir sehen uns wieder

Lütfiye Güzel arbeitet sich ab an einem grauen Universum, das sie mit prägnant gesetzten, treffsicheren Handkantenschlägen in lyrische Geometrie treibt. "Hadi Hugs" wie auch der Vorgänger "Hey Anti-Roman" gehören zum derzeit Aufregendsten, was der literarische Underground zu bieten hat. Dieses Jahr erscheint ihr Romandebüt "Oh no". Wir sind gespannt.

Lütfiye Güzel
hadi hugs
selbstgespräch
Go Güzel
2016 · 68 Seiten · 10,00 Euro

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