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Kritik

Der Untergang des Feuilletons oder das 2. Leben der Literaturkritik

101 Collagen von Lydia Daher
Hamburg

(Das ist nur der Anfang,
weil der Platz hier knapp ist) […]

Aus: Und auch nun, gegenüber dem Ganzen – dies, Lydia Daher

Der Band Und auch nun, gegenüber dem Ganzen – dies von Lydia Daher versammelt 101 Bild-Text-Cut-up-Collagen („von tatsächlich 143 entstandenen Arbeiten“), welche innerhalb eines Jahres angefertigt wurden. Ausgangsmaterial für die Collagen war jeweils eine Literaturkritik aus einer deutschsprachigen Zeitung und das Bildmaterial ebendieser Zeitung. Entstanden sind zumeist dunkle und äußerst starke Collagen. Der Entstehungsprozess wird in Form von Schnitten, Überklebungen und vor allem Rissen sichtbar und richtiggehend greifbar gemacht.

Einmal schnell durchblättern um sich einen Eindruck von den Collagen zu verschaffen ist leicht möglich, gibt es doch einen eigenen youtube-Film dazu, in dem man zusehen kann, wie Lydia Daher (?) das Buch von hinten nach vorne durchblättert.
Aus ihrer Arbeitsmethode macht Lydia Daher kein Geheimnis, immer wieder setzt sie die Beschaffenheit der Collagen gekonnt in Szene: manchmal sind die Fragmente bewusst grob ausgeschnitten, oder effektvoll gerissen und auch Klebe- und Überklebespuren sind oft sichtbar. Selbstbewusst und ohne falsche Bescheidenheit, so präsentiert sich Lydia Daher mit ihren Collagen:

Wie haben Sie’s fertiggebracht…?
kein Geheimnis,
Papier
Montage
und ein
Gehirn

Die Gedichte sind sehr unterschiedlich und sind es zugleich auch nicht. Auf den ersten Blick sind sie verschieden und doch zieht sich ein roter Faden durch den Gedichtband. Von der Form sind sie verschieden – manche umfassen sehr minimalistisch nur wenige Worte, andere bilden mehrere Blöcke oder Spalten. Und auch inhaltlich gibt es mehrere Arten von Gedichten.

…Einige wirken nachdenklich

Das Unmögliche buchstabiert die Welt neu.
schattenlose Sätze Unter der trunkenen
Hand. [...]

…Viele sprechen von Liebe und Beziehungen

[...] ich
fahre fort, dich
Nicht zu kennen [...]

…Andere wiederum sind voll augenzwinkerndem Humor oder einfach nur „lieb“ (was keineswegs abwertend gemeint ist!)

„da reitet
dir der Teufel
den Tran
aus dem Leib“

Die Tümmler
schwärmten
Wieder
vom Pacific

…Und trotzdem gibt es hinter alledem Gemeinsamkeiten, welche die Gedichte miteinander verbinden.

Und ganz ähnlich ist dies auch bei Lydia Dahers Umgang mit dem Bildmaterial: manche der Collagen sind gänzlich und in mehreren Schichten überklebt, anderen verleiht der dunkle Hintergrund optische Tiefe und wieder andere lassen das Weiß der Seite zu und weisen nur wenige Worte und ein einzelnes Bilddetail auf. Obwohl sich die Collagen und auch die Gedichte also im Detail stark voneinander unterscheiden, ist der Band als Ganzes doch sehr einheitlich.

Einige der Collagen sind Hochformat, andere Querformat. Das heißt wenn man die Gedichte wirklich liest ist es ein sehr bewegtes Lesen, da man das Buch immer wieder mal etwas drehen muss (oder seinen Kopf, je nachdem wie es einem lieber ist). Aber man kann die Collagen durchaus auch auf eine andere Art lesen: rein optisch, wenn man die Collage als Ganzes wahrnehmen möchte. Und dann muss man das Buch nicht mehr drehen. Der Effekt, der dann bei in Hochformat abgedruckten aber eigentlich auf Querformat angelegten Textblöcken eintritt ist, dass die Worte wasserfallmäßig seitlich herab zu rieseln scheinen, wie Wortfransen.

Lydia Daher geht von schon vorhandenem Bild- und Sprachmaterial aus und macht daraus Neues und Eigenes. Das Weiterverwenden und –bearbeiten von bereits vorhandenen Texten ist in der Literatur so oft anzutreffen und eine so etablierte Methode um neue Texte zu gewinnen, dass man annehmen würde, keine Rechtfertigung mehr dafür zu benötigen. Dennoch scheint genau dies in der allerersten Collage der Fall zu sein, wenn die Autorin ihren Besitzanspruch auf ihr eigenes Gedicht zu erheben scheint:

[…] Dies ist mein Gedicht! […]

Die meisten Collagen sind darum bemüht ihre Herkunft zu verbergen, oft werden Menschen beispielsweise kopflos, bzw. mit überklebten Köpfen oder zumindest mit Augenbalken gezeigt. Dennoch findet man immer wieder erkennbare Fragmente. Beispielsweise zitiert eine Collage den inoffiziellen Star der National Gallery of Scotland „Rev. Robert Walker Skating on Duddinston Loch“, auch bekannt als „Der Eisläufer“, einem Gemälde von Sir Henry Raeburn. Obwohl Lydia Daher nur den Kopf des Eisläufers ausschneidet, ist dieser so markant, dass man das Gemälde leicht erkennt. Und damit nicht genug, verweist Lydia Daher in diesem Fall auch im Gedichttext auf die Herkunft des Bildausschnittes und auf das, was in ihrer Collage nicht mehr zu sehen ist: das Eis des zugefrorenen Lochs. Gedichttext und Bildcollage beziehen sich hier also stark aufeinander. In der Collage sieht man das Antlitz des Eisläufers mit dem schwarzen Hut und auch noch die Schultern. Vom Hintergrund ist nichts mehr erhalten geblieben. Denn der Kopf ist mittig auf einer weißen und quadratischen Leinwand mit weißem Rahmen platziert. Diese wird von zwei Händen mit weißen Handschuhen an eine Wand gehalten, bzw. gerade aufgehängt. Der Gedichttext ist oberhalb des Bildes ebenfalls  mittig angeordnet und lautet:

Selbstzweifel
auf
Eis
Damit wird das Gemälde großartig und  in nur drei Worten zusammengefasst.

Und nicht nur die Bildfragmente sind meistens darum bemüht, ihre Herkunft nicht preiszugeben. Auch die Gedichte verwischen zumeist ihr Vorleben als Literaturkritik. Nur gelegentlich fallen Buchtitel, womit wieder eine eindeutige Verortung möglich wird: Anatomie einer Nacht oder „Das größere Wunder“ zum Beispiel. Namen von Autoren oder Romanfiguren jedoch findet man in den Gedichten nicht. Überhaupt sind die Gedichte „namenlos“:

[…] Dein Name ist Fussnote
ist Panzer ist Perspektive […]

Das  „ich“ überwiegt ganz eindeutig in den Gedichten, wessen sich Lydia Daher durchaus bewusst ist:

[...] „Nun, es kommt
immerhin
kein Ich vor.“

Und diese Namenlosigkeit in den Gedichten würde vielleicht gar nicht so ins Auge stechen, wenn nicht doch ein einziges Mal ein Name auftauchen würde: „Connie“.

Die Beziehungen zwischen den Wort- und Bildcollagen sind sehr verschieden. Manchmal würden die Gedichte auch für sich, ohne den Bildhintergrund, „funktionieren“. Andere wiederum lassen sich unmöglich aus der Collage herauslösen, da der Dialog zwischen Text- und Bildebene zu zentral ist. Dieser Dialog kann rein visuell ablaufen – wenn die Worte in ihrer Anordnung so gekonnt in die Collage eingeflochten sind und optisch so in Szene gesetzt werden, dass die Bedeutung, die sie transportieren fast nebensächlich wird. In anderen Collagen kommt es auch zu einem inhaltlichen Dialog zwischen Text und Bild, sodass man beide kaum mehr voneinander loslösen kann. Ein Beispiel hierfür ist das folgende Gedicht:

sie traf.
Eine befreiende Tat

Diese zwei Zeilen stehen am Ende einer fast leeren Seite. Und für sich isoliert kann man mit ihnen wohl nicht unbedingt viel anfangen. Die Seite ist jedoch nicht gänzlich leer, denn in der Mitte  wurde eine Art Falter an die Wand geklatscht – mit viel Wucht, wie es aussieht, da er noch an der Wand klebt und ein Flügel dabei abgerissen wurde. Damit erhalten die Zeilen..

sie traf.
Eine befreiende Tat

..natürlich sofort eine ganz klare Bedeutung. Und diese Collage ist noch in einer anderen Hinsicht beispielhaft für den gesamten Gedichtband: obwohl man im ersten Moment wahrscheinlich unwillkürlich auflacht, ist dennoch unterschwellig eine große Aggressivität und auch Schmerz zu spüren. Weder Gedichte noch Collagen wollen „schön“ oder „lieblich“ sein und sind es auch in keinster Weise. Dies wird zum einen schon durch die Wahl des Ausgangsmaterials bedingt – denn durch den Offsetdruck der Zeitungen wirken die meisten Collagen von den Farben her eher dunkel oder düster.

[…] Ich verlange Dämmerung […]
..heißt es diesbezüglich auch in einem Gedicht.

Zum anderen wird die gewisse Rohheit der Collagen durch die Arbeitsweise von Lydia Daher vermittelt. Denn Brüche, Schnitte und ganz besonders Risse werden nicht zu verbergen versucht, sondern viel mehr in den Vordergrund gerückt.

Lydia Daher schneidet die Worte der Gedichte jeweils aus einer Literaturkritik aus und klebt sie in die Collagen. Das Bildmaterial wird nicht nur geschnitten, sondern teilweise auch gerissen. Die Worte jedoch werden nie gerissen. In zwei Fällen scheint Lydia Daher zwar Klebstoff, doch keine Schere zur Hand gehabt zu haben – der Großteil der Worte der Literaturkritik ist übermalt und geschwärzt worden, sodass nur noch wenige Worte, die Worte des Gedichts, zu lesen sind. Der Kontext, aus dem die Worte des Gedichts stammen, ist in diesem Fall also noch sichtbar, wenn auch nicht mehr lesbar. Die Methode der Streichung von allem Überflüssigen setzt auch voraus, dass die Wortreihenfolge nicht verändert werden kann, was bei der Methode des Ausschneidens und Zusammenklebens nicht der Fall ist.

Aus: Und auch nun, gegenüber dem Ganzen – dies, Lydia Daher

Immer wieder kommentieren sich die Gedichte selbst in Nachsätzen am Bildrand. In obigem Beispiel ist rechts am Rand zu lesen:

das Gedicht kann (fast) jeder ohne
Nachhilfe in Hermeneutik verstehen, ja –

Unter einem anderen Gedicht kann man lesen:

(Zu solch simplen Schlüssen lässt sich
der Autor zum Glück nicht oft hinreißen.)

Die Worte der Gedichte sind festgeklebt, und das sehr ordentlich. Wo das Gedicht beginnt und endet ist immer klar ersichtlich, die Worte sind mit wenigen Ausnahmen in parallelen Zeilen angeordnet. Jedoch spricht ein Gedicht vom „Durcheinander“:

[...] Ein neuer Pfad zum
Durcheinander [...]

Wieder ein anderes Gedicht trägt den Titel „kräftig durcheinander“. Selbst die Bildfragmente sind zwar oft übereinander geklebt, aber eben auch geklebt und damit fixiert, und selbst im scheinbar größten Chaos ergeben sie doch ein stimmiges Ganzes. Vielleicht bezieht sich dieses „Durcheinander“ daher mehr auf den Schaffensprozess selbst, auf das Drumherum, alles Weggeschnittene und Übriggebliebene. Im Buch wird nur wenig davon gezeigt: am Bucheinband sieht man zwei ausgenommene Skelette einer Literaturkritik nachdem die Worte für die Collage bereits herausgeschnitten wurden und das Vorsatz- und Nachsatzblatt zeigen kleine Häufchen von losen Wortschnipseln.

In der Vorbemerkung von Ulrike Almut Sandig wird nicht weniger als der Untergang des Feuilletons ausgerufen: „Die Welt des Feuilletons geht in Dahers Arbeiten unter, [...]“ Aber es handelt sich dabei ja um keine völlige Zerstörung, sondern um eine Umwandlung. Die Literaturkritiken leben in den Collagen von Lydia Daher weiter, wenn auch in veränderter Form.

Bei den Collagen von Lydia Daher handelt es sich um Cut-up-Lyrik. Die Materialität ist für die Collagen zentral. Es werden ausschließlich gedruckte Literaturkritiken aus Zeitungen verwendet. Eigentlich ist diese Rezension hier über den Band Und auch nun gegenüber dem Ganzen – dies insofern als Ausgangsmaterial für eine Collage in der Art von Lydia Daher ungeeignet, sie würde sich vielleicht höchstens noch zu einer copy-and-paste-Lyrik eignen, wer weiß…

Aus: Und auch nun, gegenüber dem Ganzen – dies, Lydia Daher

Lydia Daher
Und auch nun, gegenüber dem Ganzen – dies
101 Collagen
zahlreiche farb. Abb.
Voland & Quist
2014 · 112 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-863910-62-4

Fixpoetry 2014
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