Eine Form literarischer Neurose
Begegnungen sind wohl das wichtigste im Leben, schon deshalb, weil sie uns zuweilen vom eingeschlagenen Weg abbringen, weil sie uns stocken lassen, in winzige Momente der Ruhe zwingen und gleichzeitig die Gelegenheit geben, unsere Kleidung neu zu ordnen, das Hemd rein zustecken und das Kopftuch zu richten.
Begegnungen geschehen aus Zufall oder man sucht sie systematisch. Ich gehöre wohl eher zur Gruppe der systematischen Sucher, was nicht ausschließt, dass der Zufall nicht auch eine Rolle spielt. Und in meiner Rolle als Juror für den Preis der Hotlist spielte mir der Zufall (oder die Regel der Hotlistauswahl) ein Buch von Lydia Davis in die Hand. Genau hier hörte ich langsam auf, an den Zufall zu glauben. Denn es ist bereits das vierte Buch der Autorin, das bei Droschl erschienen ist, aber das erste von dem ich Notiz nahm. Man muss die anderen Bände (zwei mit Geschichten und ein Roman) systematisch vor mir versteckt gehalten haben.
Aber das ist jetzt vorbei! Ich werde mir die Bücher besorgen, genauso wie ich mir ein Buch des Davisübersetzers Klaus Hoffer besorgt habe. „Bei den Bierresch“ heißt das und ich habe den Eindruck, er habe sich bei seinen ausladenden Sätzen von der strikten Lakonie der Davisschen erholt. Und ja, Lakonie ist das Zauberwort! Wer glaubte, sie sei in den Shortstorys von Raymond Carver auf die Spitze getrieben, sollte sich anhand der Lektüre von Davis eines Besseren belehren lassen.
Wie macht man es, dass ein Text, der nur aus zwei Sätzen besteht, noch eine Eindringlichkeit behält? Hier wird die Shortstory auf den Punkt getrieben, so wie bei dem mexikanischen Autor Monterosso, der mir mit seinem Text Der Dinosaurier bislang als Vorbild für literarische Reduktion galt. Aber Davis geht in einzelnen Texten noch weiter als Monterosso, in dem sie sie in der Unwirtlichkeit eines vorgestellten Alltags ansiedelt. Das führt zu ihrer Multiplikation.
An dieser Stelle sei vielleicht ein Vergleich angebracht:
Monterosso: Als ich erwachte, war der Dinosaurier noch da.
Davis: All die Jahre dachte ich, ich hätte ein Doktorat. Aber ich habe kein Doktorat.
(Beide Erzählungen sind an dieser Stelle komplett wiedergegeben)
Natürlich beschränken sich Davis Texte nicht auf diese Form der Reduktion. Diese Form ist auch nur da spannend, wo sie gewissermaßen aus dem Hinterhalt den Leser überrascht. Zuweilen dreht Davis das Phänomen sogar um, in dem sie beschreibt, wie das zwanghafte Bemühen um Lakonie zu für Davis Verhältnisse überlangen Texten führen kann. Eine Form literarischer Neurose. Amüsant und beängstigend und die Autorin erweist sich dabei als eine mit allen Wassern gewaschene Analytikerin.
Spürbar … eine gute Kurzgeschichte löst eine Emotion aus, eine Bewegung, die anders, als beim Roman, eine Interruption sein kann, ein verhallender Schuss, ein Stein, der aufs Wasser trifft, wir spüren mehr, als wir wissen. Wir durchschreiten einen kleinen Raum, in dem, wie durch Magie, so viel und so wenig zugleich enthalten sein kann.
Das schrieb Clemens Meyer jüngst über die Kurzgeschichte in „Die Welt.“ Das, was Meyer behauptet, mag sein, aber er trifft nicht den Kern, reduziert damit die Form aufs Gefühl und die Pose, das Verfahren auf den Effekt. Einerseits kann ich Meyers Sympathie für die Kurzgeschichte verstehen, andererseits aber leuchten mir seine Gründe nicht ganz ein. Ich fürchte, er feiert bei Hilbig und Hemingway und sogar bei Faulkner eher die Attitüde als die Literatur. Und es sind allesamt Autoren, die er feiert.
Ich lese die Stories der Amerikanerin Lydia Davis und bin von der Art begeistert, in der sie die Form seziert, aber auch unerwartete Querblicke eröffnet, z. B. auf die Tagebücher Flauberts. Aus Fremdtext, dem sie kleine Verletzungen zufügt, destilliert sie Eigenen. Das ist großartig und ein Verfahren, mit dem man Autoren, die man bewundert, beikommen kann. Und einige Texte bewegen sich auch (sogar) an der Grenze zum Absurden. Sie kommen in die Nähe der russischen Autoren Vvedenski und Charms, die im Petersburg der Zwanzigerjahre eine ganz eigene Form der Kurzgeschichte entwickelten. Natürlich im Rückgriff auf Tschechow und Gogol, die neben den von Meyer genannten Autoren wie Poe, auch die amerikanische Short Story nicht unwesentlich beeinflussten. Wahrscheinluch ist gar nicht notwendig, dass Davis diese Russen kannte, sondern es ist ihre technische Konsequenz, die sie in ihre Nähe rückt.
Man muss sich den Leser von Short Stories als glücklichen Menschen vorstellen. Zumindest für den Augenblick, in dem er Texte von Davis in der Übersetzung von Hoffer liest. Letztes Jahr Amy Hempel und Lydia Davis in diesem. So darf es weiter gehen.
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Kommentare
"the master of a literary form largely of her own invention"
DIe Dame hat den Geheimtip-Status ja schon lange verlassen, spätestens seit dem Man Booker International Price 2013. Aber in das Lob kann ich nur einstimmen, Varieties of Disturbance z.B. ist herzerfrischend eigen.
kleine Anmerkung
Nur eine kleine Anmerkung zur zeitlichen Abfolge: Hoffers "Bierresch" ist lange vor Lydia Davis' Stories erschienen. Aber schön, dass Sie Klaus Hoffer entdeckt haben. Er ist ein wunderbarer Autor.
LG philip
Lieber Philip L. , sprechen
Lieber Philip L. , sprechen Sie aus dem Grabe heraus? Dass die Bierresch dem Davis-Band vorausgingen, weiß ich wohl. Ein Blick auf die doch spannende Publikationsgeschichte zeigt es. Meine Bemerkung diente also im Grunde nur zur Verdeutlichung der formlen Differenz beider. Allerdings bin ich als Leser zeitgleich auf diese Werke gestoßen (bzw. gestoßen worden, den Hoffer bekam ich unabhängig von drei verschiedenen Personen nahegelegt) und habe eine Zeitlang auch parallel in ihnen gelesen, was diese Differenz noch einmal deutlicher hervor treten lässt.
Mit besten Grüßen
Jan Kuhlbrodt
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