Wohin gehst du?
Die ersten Seiten sind schwarz, ganz schwarz. Dreimal muss man umblättern, dann taucht ein kleiner, grauer Pfeil auf, der nach oben zeigt. Er wird heller, kommt näher, gibt sich als Schlüsselloch zu erkennen. Ein Mann erscheint, klassisch gekleidet mit Hut und Mantel. Er trägt einen Koffer. Er sieht durch das Schlüsselloch, drückt die Klinke, durchschreitet die Tür zur Welt dahinter. Die Tür fällt hinter ihm zu. Die Richtung scheint nun klar zu sein.
Zugegeben, der Einstieg in Marc-Antoine Mathieus neue Graphic Novel Richtung erscheint zunächst recht karg. Doch er bereitet den Leser auf das vor, was ihn auf den nächsten 250 Seiten erwartet. Dabei muss man sich fragen, ob hier überhaupt die Rede vom Leser sein kann, denn Richtung kommt von Anfang bis Ende ganz ohne Worte aus. Schnell wird klar: Mathieu hat hier eine ausgedehnte Metapher gezeichnet.
Richtung, Mathieu, Reprodukt
Den routinierten Lesern von Graphic Novels dürfte der Franzose unter anderem durch sein 2009 erschienenes Gott höchstselbst ein Begriff sein. Mit diesem Buch hatte sich Mathieu bereits mit einer elementaren Frage des Menschseins auseinandergesetzt, indem er die Existenz Gottes in dessen Beisein vor einem Gericht verhandeln lies. Nun geht es mit Richtung erneut um große Fragen: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Welcher ist der richtige Weg?
Der Comic wird auf sein Notwendigstes, sein Elementarstes reduziert – auf das Bild, das einzelne Panel, das eine kleine Geschichte erzählen kann, allein durch den Einsatz der Linie und den Kontrast zwischen Schwarz und Weiß. Und was gibt es da zu sehen? Einen Mann mit Hut und Mantel, der in eine fremde Welt hinausgeht und versucht, sich seine Orientierungslosigkeit nicht anmerken zu lassen. Dabei gibt es hier niemanden, vor dem er sich verstellen müsste. Doch da vorn ist schon ein Wegweiser, der in alle Richtungen zeigt. Einer der Pfeile löst sich, die Entscheidung ist gefallen. Schritt für Schritt und Bild für Bild folgt der Mann den Pfeilen, die mal klein wie ein Kiesel, mal mächtig wie Gebirge sind. Einfach und ausdrucksstark sind Mathieus Bilder, die von Seite zu Seite mehr fesseln, sodass der Comic fast zur Meditation wird. Fragt man sich anfangs noch „Was kommt als nächstes?“, „Wohin geht’s jetzt?“, beginnt man spätestens ab der Hälfte sich einfach treiben zu lassen, das Schicksal zu akzeptieren. Ändern kann man die Handlung und den vorbestimmten Weg ohnehin nicht.
Richtung, Mathieu, Reprodukt
Bequem machen kann man es sich aber auch nicht, denn an einem Punkt der Handlung erscheint ein Buch im Buch. Eines, das Antworten liefern kann? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ein großer Bogen Papier lässt sich aus dem Buch heraus entfalten. Seine Botschaft: du stehst jetzt hier. Und weiter geht’s!
Eine Metapher, eine Meditation, ein Trip. Ohne Worte schafft Marc-Antoine Mathieu mit Richtung ein intensives Comicerlebnis. Lasst euch darauf ein!
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