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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

„Wir wollen Weltfrieden und Abrentnern sofort!“

Laut und leise, mit Mischpult wider den Trend. Warum Marc Degens mit „Fuckin Sushi“ ein außergewöhnlicher Coming-of-Age-Roman gelungen ist
Hamburg

„Beliebigkeit“, schrieb die Autorin und Bloggerin Sofie Lichtenstein vor kurzem auf ihrer Wordpress-Seite, „das Problem der jungen deutschsprachigen Literatur hat einen Namen“. Beliebig, so Lichtenstein, seien die vielen Coming-of-Age-Romane junger deutschsprachiger Autoren, die in letzter Zeit veröffentlicht wurden. Tatsächlich ließe sich für die vergangenen Jahre so etwas wie ein „Coming-of-Age-Boom“  (Lichtenstein) in der jungen Gegenwartsliteratur feststellen. Jedes zweite Debüt, so scheint es, ist ein moderner Entwicklungsroman. Das ist nachvollziehbar. Ist doch das Aufwachsen gerade für junge Autoren ein naheliegender Stoff. Noch dazu einer, aus dem ganz wunderbare Geschichten entstehen können. Und so fluten seit Potter und Tschick ganze Jahrgänge junger Autoren den Markt mit Romanen über’s Erwachsenwerden. Dass das aber irgendwann beliebig wirkt, ist klar. Allzu oft erzählen die Autorinnen und Autoren die gleiche Geschichte, nur eben in unterschiedlichen Milieus und Zeiten, an unterschiedlichen Orten. Man kann ordentlich darüber streiten, woran das liegt: die Ideenlosigkeit der Jungautoren, die fehlende Neugier, Experimentier- und Risikofreude. Fest steht: Es gab leichtere Zeiten, um einen Coming-of-Age-Roman zu schreiben, der bleibenden Eindruck hinterlässt.

Marc Degens ist das gelungen. Als DuMont vergangenes Jahr Degens neuen Roman ankündigte, rechnete man allerdings noch nicht unbedingt mit einem Roman über’s Erwachsenwerden. „Fuckin Sushi“ klang eher nach dem Titel eines der kleinen gelben Hefte, die Degens schon seit Jahren gemeinsam mit Frank Maleu und Torsten Franz im kleinen Berliner SuKuLTuR Verlag (Verlagsporträt, siehe metamorphosen Nr. 31, April 2013) veröffentlicht. Bald aber wurden weitere Details gepostet und getwittert. Um eine Band solle es gehen und um Bonn. Kurz danach bekam das Buch eine eigene Website. Die wies schon im Dezember regelmäßig darauf hin, dass der Release unmittelbar bevorstehe. „Fuckin Sushi“ ließ ab sofort auf sich warten, wie gute Bands das eben so tun. Dafür legen ihre Protagonisten Niels, René, Lloyd und später auch Nino dann gleich mächtig los. Zusammen, auf der Bühne. Für Niels geht ein Traum in Erfüllung: „Ich schloss die Augen und fing an zu zählen. Eins, zwei, drei, vier. Und dann noch mal und noch mal. Ich (…) zögerte meinen Einsatz immer weiter hinaus. Dann hielt ich es nicht mehr aus, öffnete die Augen und begann zu spielen. Aus meinen Fingern floss Musik und die Luft im Turm brannte.“ Niels ist kein geborener Rockstar. Er ist Schüler, hat eine Maulwurf-Uhr überm Bett hängen und spielt Wii. Von Oma Frese hat er vor kurzem einen Bass geschenkt bekommen. Irgendwann spielt er René darauf vor. Der schreibt schon länger Songtexte in sein Physikheft. Lange brauchen die beiden nicht, um zueinander und zur gemeinsamen Band zu finden. Bald stößt Drummer Lloyd hinzu, der den Proberaum organisiert. Die drei spielen fortan im Müll-Tower, der seinem Namen alle Ehre macht. Aufgewachsen wird nebenbei. Die drei und Nino stehen schon bald sowieso nur noch auf der Bühne. Music saved my life, oder so, das trostlose Bonn der Nullerjahre jedenfalls wird bald zur Arena einer außergewöhnlichen Schülerband. Welche Musikrichtung die vier einschlagen wird dabei nie so ganz klar. Laut sind die Tracks – und lang. René singt auf deutsch und die Leute fahren schon nach den ersten Gigs drauf ab: Ihr erstes Video erntet auf YouTube über Nacht fast dreihunderttausend Klicks.

Es ist nicht nur die Geschichte dieses Romans, die vor allem Bandgeschichte ist, die ihn von anderen Romanen über das Erwachsenwerden unterscheidet. Es ist zum einen die Beiläufigkeit, mit der Degens die alterstypischen Probleme, Fragen und Abenteuer der Teenager in die Story mit einbaut. Klar wird in Pornoheften geblättert und ordentlich viel getrunken und das erste Mal erlebt. Doch alles passiert eben im Grunde einfach nur neben der Bühne, auf Tour, immer in der Band-Bugwelle. Die Musik steht im Vordergrund, sie verbindet die vier Teenager, ist das eigentliche Motiv und Thema der Story. Wenn Degens die Band vor wild tanzenden Bundeswehrmuttis und in pickepackevollen Rockerschuppen auftreten lässt, kribbelt es beim Lesen in Händen und Füßen: „Die Kronleuchter an der Decke wackelten. Aus unseren Armen und Beinen und Fingern kam Musik, ganz automatisch. Sie war roh und hart und ehrlich. Ich fühlte mich wie ein neuer Mensch. Bonn sollte einstürzen. Der ganze Scheißplanet. René brüllte wie ein Presslufthammer, Lloyd verprügelte die Welt und Nino hatte sich in Ninoglycerin verwandelt.“ Die Musik beschreibt Degens immer als Erlebnis, als Ekstase. Keine Fachbegriffe, keine Plattitüden, der Sound ist roh und hart und ehrlich, die Auftritte von „Fuckin Sushi“ lesen sich irgendwann wie krasse Drogentrips. Längst hat die Band zu ihrem Sound gefunden. „Es war ein richtiger Rausch. So stellte ich mir harte Drogen vor, Crystal Meth oder Crack“, bestätigt Niels. Dass ihm der Rausch noch zum Verhängnis werden wird, weiß er da noch nicht. Alkohol befeuert von Beginn an die Intensität des Bandlebens. Gerade der nüchtern eher schüchterne Niels kann kaum von ihm lassen. Kaum eine Probe, die ohne Dosenbierpalette und Sekt über die Bühne geht. Von den Auftritten ganz zu schweigen. Dazwischen wird geraucht, geschlafen und gefeiert. In der Schule sieht man Niels kaum noch. Das Abi packt er trotzdem. Die Band aber, sein Traum, ist für ihn schon kurz danach Geschichte.

Laut sind die Auftritte von „Fuckin Sushi“. Leise dagegen ist das Ende der Gruppe. Angenehm unaufgeregt beschreibt Degens, wie sich ihre vier Mitglieder verändern, wie sich Niels verändert. Dessen Entwicklung ist so unerwartet wie schockierend. Für ihn und auch die Band geht es zuletzt nach einem vergeigten Bandcontest steil bergab. Den Highlights folgt die Depression. Immer wieder gelingt es Degens, den richtigen Ton zu treffen: Hier ohrenbetäubende Konzerte, dort graue Schultage, hier die heißen Flirts mit Redakteurinnen von Musikmagazinen, da der Abi-Stress. Degens wird wissen, wie sich das anfühlt. „Seine Bands“, liest man in seiner Kurzbiografie, „hießen Doda, Stendal Blast, Die blutjungen Dilettanten und Superschiff“. Mittlerweile steht er als Popautor eher am Mischpult (zum Glück), unterlegt den Coming-of-Age-Roman mit neuem Beat und bringt ein lahmend sattes Genre endlich wieder zum Zucken. „Fuckin Sushi“ kann ein Lied davon singen: Im Jubel fingen wir an zu spielen. (…) Der Boden wackelte. In den ersten Reihen wurde Pogo getanzt. Wir klangen besser als jemals zuvor. Eva (die Mischerin) vollbrachte am Mischpult wahre Wunderdinge. (…) Ich war verliebt. Nicht in Eva, sondern in unsere Musik. Am liebsten wäre ich vor Glück zersprungen.“

Marc Degens
Fuckin Sushi
Dumont
2015 · 320 Seiten · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-8321-9747-6

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