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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Das enigmatische Überkreuztsein der Zeit

Marc Mielzarjewicz fotografiert Ruinen in und um Leipzig

Verschlossene Türen und Stacheldraht konnten nie dauerhaft verhindern, daß urbane Subkulturen sich ungenutzte Räume erobern, und daß der kreative Teil derer, die sich herumtreiben in den aufgegebenen Bereichen der Welt, in den Ruinen unbelästigt Galerien ihrer Streetart und Undergroundkunst ablegen. Hier ist Anarchie. Hier sagt niemand mehr was, außer der Natur, die hereinkriecht mit Winden und Efeu. Das fasziniert uns. Hier läßt sich alles neu beginnen, weil alles zu Ende ist. Im Internet findet man seitenweise Fotografien, in denen zerstörte Fabrikhallen, verlassene städtische Bauwerke und anderes Niemandsland als Motiv oder als Hintergrund die tragende Rolle spielen.

Es liegt daran, daß eine Ruine nicht einfach nicht mehr das ist, was es einmal war, sondern genau dadurch schon wieder neues Ungewesenes enthält. Stendhal hat seinerzeit gesagt, daß das Colosseum „heute, wo es in Trümmer fällt ...vielleicht schöner ist, als in den Tagen seines höchsten Glanzes. Damals war es nur ein Theater ...“. Solange ein Bau seiner Nutzung dient, ist er zweckbelegt und eingezurrt in unabänderliche Prozesse – gibt man ihn auf, befreit man ihn und entläßt ihn in Möglichkeitsräume, die jedem Besucher individuell aufscheinen. Das Spiel von Geschichte und möglicher Zukunft ist genau das Spiel, das uns Menschen aus den Weltbegegnungen und der Natur vertraut ist: da gibt es etwas zu ergründen und hält gleichzeitig eine Möglichkeit bereit – woher kommt dieser scharfe Splitter und was kann ich mit ihm tun. Die Vision ist unsere Spinne im Kopf, die ihre Drüsen anschmeißt und leere Räume abläuft. 

Solange ein Gebäude steht, ist es ein Monument des Willens. Sobald aber „diese einzigartige Balance zwischen der mechanischen, lastenden, dem Druck passiv widerstrebenden Materie und der formenden, aufwärts drängenden Geistigkeit“ eines Gebäudes zerbricht, so schreibt Georg Simmel 1919 „bedeutet dies nichts anderes, als daß die bloß natürlichen Kräfte über das Menschenwerk Herr zu werden beginnen: die Gleichung zwischen Natur und Geist, die das Bauwerk darstellte, verschiebt sich zugunsten der Natur. Diese Verschiebung schlägt in eine kosmische Tragik aus, die für unser Empfinden jede Ruine in den Schatten der Wehmut rückt.“ Dennoch enthält die Ruine als starkes emotionales Magnet eine weites Feld der Friedlichkeit. Hier lässt man zu. Der Mensch ist passiv, lässt zerfallen, die Natur darf zurückholen. 

Der Mitteldeutsche Verlag hat zur Buchmesse in Leipzig einen neuen Bildband von Marc Mielzarjewicz vorgelegt, in dem er „Verborgene Welten“ in und um Leipzig vorstellt: Lost Places. Jahrhundertwende-Zweckgebäude mit Jugendstilformen und fleckigen Ziegelmauern, Getreidespeicher, Stadtbad, Proviantamt mit Heeresbäckerei. Farbe, die abblättert, Staub der aufliegt, eine Puppe, die in einem offenen Schaltschrank eingedrückt ist, wie in ein Puppenhaus. Hallen mit leergeräumten Einbaumöbel, alten Industriemaschinen, kuriose Heizkörper, elektrische Schaltreihen und Sicherungsbatterien, magere Lampenskelette an sich häutenden Decken, Ventilationen und Abzugshauben, Fahrstühle und Rohrleitungen, Stahlträger, die mit ihrem Nietenspiel an Metallbaukästen erinnern, zentimeterdickes Grau über säurefesten Achteckfliesen. Ornamentale Tapeten und Graffiti auf zerdepperten Stehklos. Auf hundertfach verschiedene Weise durchschnittener Raum, geöffneter, beengter Raum, von Glassplittern beworfener und von Lichthöfen überwachsener Raum. Eine andere Welt in schwarzweiß. Das zerschmissene Labor wird zur Galerie und die nutzlose Apparatur zum objet trouvé. Marc Mielzarjewicz lässt sich ein. Man spürt in jedem einzelnen Bild das Signal, das er empfangen haben muß: der seltsame Winkel, das stark unterteilte Licht, die architektonische Symmetrie, nah dran, unausweichlich. So paradox es klingt: lebendige Momente. Das Entstehen von Idee und Ordnung (was ein strukturiertes Zulassen von Unordnung sein kann). Bezeugte Ungewißheit und anarchische Gewißheit – der Verfall ist genauso da, wie die Geburt und die Befreiung, die Möglichkeit zu Neuem. So sind die Fotos keine Erinnerungsprothesen sondern angeschaltete Mikroskope. Die besondere Ästhetik der Ruine ist das enigmatische Überkreuztsein der Zeit. Mit einem Schuß durchschneidet die Kamera das hybride Geschehen und zeichnet den einen von tausend möglichen Querschnitten auf, je nach Standort. Wenn man richtig steht und seinen Standpunkt lebt, gibt es gute Bilder.

Marc Mielzarjewicz hat einen wundervollen Bildband zusammengestellt. Einer aus einer Serie von drei zum Thema lost places, die man sich alle besorgen sollte.

Marc Mielzarjewicz
LOST PLACES - Leipzig
Verborgene Welten
Textbeiträge: Stefan W. Krieg
Mitteldeutscher Verlag
2013 · 160 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-898126519

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