Die Stille und das Dunkel
Fast 20 Jahre ist es her, dass der Roman Flughunde (1995) im Suhrkamp Verlag erschien und seinen Autor Marcel Beyer zu einem der bekanntesten Schriftsteller seiner Generation machte. Das Buch wurde von der Kritik durchweg positiv aufgenommen und als kleine Sensation gefeiert. Flughunde wurde zum Bestseller. Worin lag aber dieser enorme Erfolg bei Kritikern und Lesern begründet? Zum einen natürlich in den bis dahin ungewohnten, doch sehr faszinierenden Perspektiven, mit denen unter anderem die letzten Kriegstage aus dem Führerbunker heraus geschildert wurden. Zum anderen wegen der brillant gearbeiteten sensorischen Dimension der Story.
Die Zeichnerin und Illustratorin Ulli Lust, die 2009 mit ihrem autobiographischen Comic Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens (Avant Verlag) für einiges Aufsehen sorgte, hat nun Marcels Beyers Flughunde als Graphic Novel adaptiert. Das Ergebnis ist eine meisterhafte Kollaboration aus Text und Bild, die Beyers Romanvorlage mehr als gerecht wird.
Source: Suhrkamp
Im Mittelpunkt der Erzählung stehen der Akustiker Hermann Karnau und Helga Goebbels, die älteste Tochter des Reichspropagandaministers. Karnaus Aufgabe ist es die Reden Goebbels‘ und des Führers noch mächtiger und kraftvoller klingen zu lassen. Durch einen Vortrag zieht der Akustiker die Aufmerksamkeit des NS-Arztes Stumpfegger auf sich, der Karnau daraufhin mit der Leitung einer Arbeitsgruppe zur Erforschung der Stimme betraut. Um für eine schnelle und optimale Verbreitung der deutschen Sprache in den besetzten Gebieten zu sorgen, begibt sich Karnau mittels sadistischer Experimente auf die Suche nach den Ursprüngen menschlicher Laute. In dieser Zeit trifft er sich auch mit Goebbels und lernt dessen Kinder kennen. Helga Goebbels ist neben Karnau die zweite Protagonistin und erzählt zuverlässig und mit überraschendem Scharfsinn aus dem turbulenten Familienleben der Ministerkinder. Als sie Karnau im April 1945 im Führerbunker wiedersieht, ahnt die 12-jährige bereits, dass sie und ihre Geschwister dem Tod geweiht sind.
Ulli Lust hat die Geschichte um die beiden so verschiedenen Figuren sehr präzise wiedergegeben und hält sich teilweise sehr genau an den Wortlaut der Romanvorlage. Dabei sticht vor allem das abwechslungsreiche Farbenspiel des Comics ins Auge, das sowohl der optischen Abgrenzung unterschiedlicher Erzählsituationen dient als auch dem Transport der jeweils charakteristischen Stimmung einer Szene. So ist es im Führerbunker meist grau, die zugehörigen Bilder bisweilen unwirklich und steril. Ein Zustand, der aber nie lange anhält, denn die Überblendung der Figurenperspektiven ist stets fließend und geschickt arrangiert. Besonders eindrucksvoll gelingt diese Art der parallelen Darstellung während der berühmten Sportpalastrede Goebbels‘. Ulli Lust illustriert diese vor allem in ihrer Akustik sehr eindringlich und lässt Karnaus Experimente an KZ-Häftlingen gleichzeitig stattfinden. So vermischt sich im Kopf des Lesers das Geschrei der Opfer mit dem Gebrüll der Täter.
Wie aber gelingt es die akustische Vielfalt des Romans, die unzähligen Klänge und Geräusche, denen Karnau auf der Spur ist, im Comic erfahrbar zu machen? Zunächst bedient sich Ulli Lust hier klassischer Mittel des Comics, indem sie Lautworte wie „BUMM“, „KLACK“ oder „PENG“ einsetzt. Dieses Spektrum wird jedoch um ein Vielfaches erweitert, indem die Zeichnerin in fast jedem Bild eigene Buchstabenkombinationen einbaut, die dem aufmerksamen Leser eine echte Klangfüllebieten. Das Surren der Lüftungsanlage („SSSWWWSSSSWWW“), das Flackern der Lampen („BZZZT BZZZT“), das dumpfe Scharren der Schuhe und Stiefel auf Beton („RAT RAT RAT“), beinahe jeder Laut kommt in dieser Graphic Novel zu seinem Recht.
Besonders beeindruckend ist neben der akustischen Ebene des Comics vor allem die Darstellung der kindlichen Perspektive von Helga Goebbels, die die Lügen der Erwachsenen durchschaut und somit eine Sonderstellung zwischen den naiven Geschwistern und den distanzierten Eltern einnimmt. Einmal mehr ist es der Klang der Stimme, der die Lügen der Eltern enttarnt. „Das ist ein ganz besonderer Hauch“, sagt Helga. Dass dieser Hauch die Luft im Führerbunker bestimmt, ist eindeutig. Während es den Generälen immer schwerer fällt gegenüber den Kindern Optimismus zu verbreiten, sehen diese bereits aus wie lebende Tote. Der Hauch der Lüge vom Endsieg wird zum Hauch des Todes, der die Welt der Goebbels-Kinder immer weiter einengt und schließlich auslöst.
Im Vergleich zu Beyers Roman scheint Ulli Lust hier den Fokus etwas verändert zu haben, denn vor allem zum Ende hin liegt das Zentrum der Erzählung klar auf dem Schicksal Helgas und ihrer Geschwister. Dennoch verkommt Karnau nicht zur Randfigur, wird für die 12-jährige sogar zu einem letzten Hoffnungsträger, als er ihr mitten im Krieg eine Tafel Schokolade besorgt. Diese Fokusverschiebung kann der Graphic Novel Flughunde allerding nicht schaden, sie intensiviert vielmehr den Eindruck, den diese rundum kongeniale Adaption beim Leser hinterlässt.
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