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Kritik

Im Sog eines Staubkorns auf Glas

Das Erzähldebüt von Marie T. Martin

„Luftpost“ heißt das erzählerische Debüt der jungen Kölner Autorin Marie T. Martin, das soeben im Poetenladen-Verlag erschienen ist: Ein schlankes Buch, das die Schwere des Alltags mit der Leichtigkeit von fallenden Blättern, schimmernden Lichtflecken oder eben von Luftpost transportiert. Ein Buch mit Sogwirkung. Ein Page Turner.

In der jungen modernen Prosa sind zwei Erzählweisen derzeit hip: Entweder das total abgedrehte, absurd Überzeichnete (was mitunter durchaus seinen Reiz hat) oder das krampfhafte Intellektualisieren, in dem zwar viel geschwafelt, aber darüber das Wesentliche vergessen wird: nämlich dem Leser eine Geschichte zu erzählen. Marie T. Martin liefert keines von beidem, sondern eben dies: Sie erzählt Geschichten, kleine Geschichten, die ihre Kraft aus Themen des Alltags nehmen, die jeden Leser betreffen.

Marie T. Martin ist eine Autorin, die etwas zu sagen hat. Ihre Stories kommen direkt aus dem Leben, greifen in eine volle Schatztruhe der Erfahrungen, Empfindungen, Eindrücke, Ausdrücke, Träume und Alpträume. „Luftpost“ gehört zu jenen raren Glücksfällen der Kurzprosa, die man schon nach wenigen Seiten nicht mehr aus der Hand legen kann. Es passiert sehr wenig in diesen Geschichten, und zugleich passiert unglaublich viel – unter der Oberfläche, im innersten Inneren des Erlebens und Wahrnehmens. Es sind kleine, meist zerbrechliche Figuren, die genau das auszeichnet, was Menschen liebenswert macht: Ihre Schwächen, ihre kleinen und großen Unzulänglichkeiten, ihre Ängste und Sehnsüchte.

„Ich gehöre niemandem, vielleicht dem Raum, der mich umgibt, und in den ich meine Füße setze. Der sich zwischen meinen Fingern ausdehnt. Ein unerhörter Raum, in den dieser Nachmittag hineinwächst mit seinem Licht und den zitternden Zweigen über dem Tisch, mit den Getränken, die dastehen wie eine Versuchsanordnung“, beginnt die Erzählung unter dem schlichten Titel „Nachmittag“. Der Detailreichtum, die präzise Beobachtungsgabe, die offen ist für die erschlagende Schönheit des Alltäglichen, verquickt das Faktische mit der unergründlichen Kryptographie des subjektiven Blicks, der aus Erinnertem, Gegenwärtigem und Ersehntem besteht – und die an ihren besten Stellen die Tiefe des Nouveau Roman erreicht, ohne dessen Schwatzhaftigkeit. Marie T. Martin öffnet einem die Augen für all das, was man in der Stupidität der Routinen nicht mehr registriert – nach dem Lesen ertappt man sich dabei, wie man minutenlang einen Lichtfleck beobachtet oder einen Schatten oder die Struktur von Staubkörnern auf einem Glastisch, und man beginnt, all das in Beziehung zu sich selbst zu setzen.

Da gibt es die junge Frau, die auf einen Mann wartet, der vermutlich nicht kommen wird, aber sie versucht, ihre Wohnung mit seinen Augen zu sehen (was natürlich nicht funktioniert, es ist und bleibt ihr Blick), und es gibt diejenige, die in eine fremde Wohnung kommt und sie zu ihrer macht, indem sie die Perspektive wechselt, und es gibt die, die lieber im Hotel übernachtet, eben weil Hotels so unpersönlich sind; es gibt die Geschichte, die abwechselnd aus männlicher und weiblicher Perspektive erzählt ist, die so entfernt an David Nicholls’ grandiosen Roman „Zwei an einem Tag“ erinnert, und die all die Fäden, die zwischen den Menschen gespannt sind, im flüchtigen Licht eines Sonnenstrahls aufblitzen lässt – und es fasziniert ungemein, wie es der Autorin gelingt, die unterschiedlichsten Figuren so eindrücklich darzustellen, dass man sich überlegt, wer aus dem eigenen Umfeld dieser oder jener entspricht (und die Entsprechungen findet man immer).

„Luftpost“ ist ein page-turner in beide Richtungen: Man kann nicht aufhören zu lesen, und doch muss man immer wieder zurückblättern, erneut lesen, aus Angst, dass einem eins der tausend kleinen Details, eine der unzähligen Schwingungen entgangen sein könnte. Ein rundum überzeugendes Debüt einer Autorin, von der wir ganz gewiß in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch viele Überraschungen erwarten können.

Marie T. Martin
Luftpost
poetenladen
2011 · 144 Seiten · 17,80 Euro
ISBN:
978-3-940691200

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