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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Nachdenken über den Hundskopf

Hamburg

Am Ende der Graphic Novel Reprobus steht ein Zitat der Band Mice Parade. „If the myths have gone away, will the stories ever stay in our time?“ Wenn so gefragt wird: wohl eher nicht, könnte man salopp antworten. Dabei darf die Frage im Internetzeitalter, das durch einen radikalen Positivismus geprägt ist, ruhig ernst genommen und darüber nachgedacht werden. Schließlich stellt es nicht gleich einen Verrat an der Aufklärung dar, wenn man sein kulturelles Selbstverständnis anhand des Mythos zu überprüfen versucht. Diese ursprüngliche Orientierungsfunktion scheint in der globalisierten Welt gefragter denn je. Das Verschwinden der ‚großen Erzählungen‘, diagnostiziert durch den französischen Philosophen Jean-François Lyotard, hat diese Sehnsucht noch gesteigert.


Quelle: Rotopolpress.de

Unter diesen Voraussetzungen widmet sich der Zeichner Markus Färber der Legende des heiligen Christophorus oder Reprobus, wie dessen ursprünglicher Name war. Reprobus war ein hundsköpfiger Riese, der niemandem dienen wollte, der nicht stärker war als er. Darum suchte er den mächtigsten Herrscher der Welt auf, um sein Leibwächter zu werden. Dieser aber fürchtete sich vor dem Teufel, was Reprobus veranlasste sich diesem anzuschließen. Im gemeinsamen Feldzug mit dem Herrn der Finsternis stellte sich jedoch heraus, dass auch diesem vor einem noch mächtigeren Herren graute: Jesus Christus. Also machte sich Reprobus auf den Weg denjenigen zu suchen, der sogar den Teufel erzittern lässt. Ein Eremit lehrte ihn, dass der Weg zu Gott nur über die Askese führt. Aufgrund seines tierischen Wesens, das sich nicht von seinen Trieben und Instinkten befreien kann, schien ihm Christus jedoch unerreichbar. Um sich in Geduld und Demut zu üben, wird Reprobus aufgetragen die Menschen über den Fluss zu bringen, der die jenseitige von der diesseitigen Welt trennt. Als Jesus sich schließlich offenbart, verwandelt er den Riesen in einen Menschen und tauft ihn Christophorus, der Gottesträger.

Die Legende von Reprobus bzw. des heiligen Christophorus bewegt sich zwischen mindestens drei verschiedenen Mythologien. Als Fährmann stellt er die christliche Vertretung Charons dar, der im antiken Griechenland die Toten über den Fluss Acheron in das Reich Hades‘ führte. Die hundsköpfige Gestalt des Riesen (Kynokephale) ist hingegen ein  Relikt aus dem heidnischen Volksglauben der Antike und des Frühmittelalters. Die wechselhafte Überlieferung der Legende von ihren Ursprüngen bis hin zur Kanonisierung durch die katholische Kirche wird im Nachwort der Graphic Novel von Cordula Patzig wunderbar nachgezeichnet. Markus Färber diente sie als Vorlage für ein Werk, das sich wie sein Protagonist zwischen den Zeiten und Welten bewegt. Denn Reprobus ist nicht bloße Nacherzählung und Illustration eines uralten Stoffes. Der Comic ist gleichsam Interpretation und Weiterführung in die Gegenwart.

Färbers Reprobus setzt sich über das Diktum des Zeitflusses hinweg, springt durch verschiedene Erzählebenen und verknüpft sie so zu einem wahren Leseereignis. Reprobus und Christophorus treten von Beginn an gleichberechtigt in Erscheinung. Der Wechsel zwischen den Welten Mythos und Logos ist für den Protagonisten eine Herausforderung und regt den Leser zum Nachdenken über die Verschränkung beider Ebenen an. Dabei kann von Verschränkung gar nicht wirklich die Rede sein, denn so wie der Fluss sich zwischen ihnen auftut, bekommt auch Reprobus die Lücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart deutlich zu spüren.  Färber stellt diese durch einen verlorenen Zahn dar, der erst als Talisman am Stab des Christophorus hängt, schließlich aber verloren geht und in Vergessenheit zu geraten droht.

Wer nun aber eine allzu kryptische Umsetzung eines ohnehin archaischen Stoffes befürchtet, wird beruhigt. Denn die gekonnte Verschränkung der Erzählebenen und einzelner Erzählelemente lockern die Graphic Novel deutlich auf. Die Dynamik der Geschichte wird durch einen expressiven Zeichenstil und die unkonventionelle Verwendung der einzelnen Panels verstärkt. So sprengt Färber nicht selten ein Motiv auf, indem er es über mehrere Einzelbilder wirken lässt. Diese Methode ist in Reprobus darum so raffiniert, weil sie die überaus angemessene Schwarz-Weiß-Ästhetik des Bandes davor bewahrt auch nur ansatzweise erdrückend zu wirken.

Mit Reprobus ist Markus Färber eine herausragende Graphic Novel gelungen, die nicht nur künstlerisch überzeugt. Der Versuch einer Antwort auf die von Mice Parade gestellte Frage wirft neue Fragen auf. Färber scheut diese nicht und hinterfragt mit seiner Arbeit den Platz des mythischen in unserer Zeit.

Markus Färber
Reprobus
Rotopolpress
2012 · 96 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-940304766

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