Schiffsuntergang, ein Spiel: Der Roman "Der Fisch in der Streichholzschachtel" von Martin Amanshauser
"Der Fisch in der Streichholzschachtel" – dieser Titel bewog mich, Martin Amanshausers Roman zu besprechen. Ich ging von postmoderner humorvoller Metaphorik aus. Diese Erwartung erfüllte sich beim Lesen leider nicht. "Fisch" ist schlichtweg der Spitzname eines der beiden Protagonisten, und als "Streichholzschachtel" bezeichnet dieser die Kabine des Kreuzfahrtschiffes "Atlantis", die er mit seiner Frau bewohnt. Dennoch habe ich das Buch ganz gerne gelesen.
Zunächst zum Inhalt: Fred Dreher, erfolgloser Inhaber von "Alarm Fred", schenkt seiner Frau Tamara zu ihrem vierzigsten Geburtstag im Jahr 2015 eine Schiffsreise in der Karibik auf dem riesigen Luxusliner. Das Geld dafür muss er sich allerdings von ihr leihen. Sie strebt zwar, erfolglos wie er, eine Karriere als Architektin an, hat aber genügend Geld geerbt, um die Familie zu ernähren. Diese besteht aus ihr, Fred und den Teenagern Malvi (15) und Tom (11). Fred, einer der beiden Ich-Erzähler des Romans, ist in seiner Midlife-Crisis gefangen, meckert über alles, findet sein Leben, seine Frau und vor allem sich selbst zu normal ("Ich bin ein Familienvater, treu bis zur Lächerlichkeit."), seine Tochter zu dürr, zu unzugänglich und gothic und seinen Sohn zu fett und unverschämt. Er hat Schmerzen wegen einer Vasektomie, die er heimlich an sich hat vornehmen lassen, da seine Frau sich ein drittes Kind wünscht, und schluckt heimlich eine Paracetamol-Tablette nach der anderen. Und ihn plagen Existenzsorgen, da ein großer Auftrag für seine Firma, entgegen seiner Behauptung, noch aussteht. Zudem fühlt er sich auf dem Schiff nicht wohl ("Eine Kreuzfahrt im 21. Jahrhundert löst Individuen auf und macht aus ihnen Passagiere"). Eine holländische Familie, die für ihn mit ihren zwei perfekten Kindern das Leben verkörpert, das ihm nicht gelingt – auch weil er es intellektuell verachtet – geht ihm auf die Nerven. Denn Daan, der holländische Vater, hat einen Narren an ihm gefressen und drängt sich ihm bei jeder Gelegenheit auf.
Der andere Ich-Erzähler ist Salvino d'Armato degli Armati, zur Zeit, nämlich im Jahre 1730, auf dem Piratenschiff "Fin del Mundo" als Geograph unterwegs. Mit ihm fährt ein Häufchen abgehalfterter Seeräuber und ein Kapitän, der natürlich Störtebeker heißt und somit der Inbegriff eines Piraten ist. Dieser hat allerdings eine Hemmung, Handelsschiffe zu entern, und bringt dadurch seine Mannschaft immer mehr gegen sich auf.
Beide Erzählstränge laufen zunächst parallel. Fred trifft auf der "Atlantis" eine alte Liebe namens Amélie und spielt mit dem Gedanken, sich nach fünfzehn Jahren Ehe einen Seitensprung zu erlauben. Salvino hadert mit dem Schicksal, da das Goldene Zeitalter der karibischen Piraterie zu Ende geht. Noch dazu ist er vierzig Jahre alt und hat damit längst den persönlichen Zenit überschritten. An Land leben kann er nicht, da er in allen Häfen gesucht wird, und die Sehnsucht nach seinem leiblichen Kind macht ihm zu schaffen. Beide Erzähler scheinen anfangs nichts miteinander zu tun zu haben – bis auf die Tatsache, dass sie im selben Alter sind, der eine allerdings im achtzehnten Jahrhundert, der andere im einundzwanzigsten.
Doch nun verlässt der Roman die realistische Ebene: Beide Schiffe geraten in denselben gewaltigen Sturm. Störtebeker steuert die "Fin del Mundo" verwegen durch den Orkan und schwingt sich damit zu einstiger Größe auf. Er kann aber nicht verhindern, dass ein Teil der Mannschaft und der Takelage über Bord gehen, ebenso die einzige Kanone des Schoners.
Auf dem Kreuzfahrtschiff löst der Sturm ebenfalls Ängste aus, wenn dort auch die Bedrohung erst einmal nicht so existenziell erscheint. Auf der Suche nach Kaugummi gegen die Seekrankheit seiner Familie trifft Fred Amélie wieder. Sie hat sich am Kopf verletzt, und er hilft ihr. Die beiden kommen einander näher. Dann geht er zurück zu Tamara in die gemeinsame Kabine Nummer 5040. Die Passagiere werden über Lautsprecher beruhigt und versuchen zu schlafen. Am nächsten Morgen scheint alles in Ordnung zu sein, jedoch liegt das Schiff still, und jegliche Außenverbindung der Passagiere per Handy oder Computer ist gestört.
Derweil entdecken die Piraten der "Fin del Mundo" das Kreuzfahrtschiff. So ein Monstrum haben sie noch nie gesehen. Sie können es sich nur als Weltwunder erklären und nennen es "Turm", da es sie an den Turm von Babel erinnert. Sie betrachten das Schiff und seine Passagiere mit dem Fernrohr, können sich aber keinen Reim auf den Ozeanriesen machen. Der gebildete Salvino bemüht Platons Atlantis-Texte zur Erklärung des Phänomens. Corta-Cabeça, der aggressivste aller Piraten auf dem Schiff, vermutet in der "Atlantis" sogar den Antichrist.
Doch dann wird eine Abordnung der Piraten an Bord des Schiffes geholt. Zu ihr gehören unter anderen Salvino, der Schiffsjunge der "Fin del Mundo", der Pursche genannt wird, und die von Störtebeker hochschwangere Piratin Anne Bonny. An Bord der "Atlantis" hält man die Piraten für Schauspieler. Nur Freds Tochter Malvi erkennt sofort, dass es sich hier um echte Seeräuber handelt, und sie verguckt sich in den Purschen.
Auf den folgenden zweihundertfünfzig Seiten des Romans wird von beiden Erzählern vorwiegend beschrieben, wie die jeweils andere Welt auf sie wirkt und einwirkt. Salvino und auch die anderen Piraten sind fasziniert von Lichtschaltern und Kühlschränken, von der eng anliegenden Kleidung und vom Verhalten der "Babelianer" – besonders von der Rolle der Frauen. Salvino beginnt eine Liaison mit Amélie, die er Emily nennt, wie er allem, was er sieht, die Namen gibt, die er von den "Babelianern" hört. Die Kabine, welche ihm später zugewiesen wird, nennt er beispielsweise "Sweet" – zur Freude der Rezensentin.
Anne Bonny kommt auf die Krankenstation, um dort ihr Kind zu kriegen. Der Pursche ist ernsthaft in Malvi verliebt und diese in ihn. Einer der Piraten stielt einen Sack voll faszinierender Gegenstände wie Handys, Pfefferstreuer und MP3-Player. Er und Störtebeker und der Pursche samt Malvi kehren auf das Piratenschiff zurück. Anne Bonny und Salvino bleiben auf der "Atlantis". Dieser überlegt sogar, ob er nicht für immer in der "besten aller Welten" leben will, die er übrigens für eine vom Rest der Welt isolierte Erscheinung aus der Vergangenheit hält.
Fred macht in der Zwischenzeit eine Metamorphose zum Helden durch. Er fährt heimlich mit Daans Schlauchboot zur "Fin del Mundo", um seine Tochter zurückzuholen. Diese, mittlerweile zum Maskottchen der Piraten avanciert, weigert sich jedoch mitzukommen. Fred wird zunächst von den Piraten gefangen genommen, freundet sich aber dann mit Störtebeker an und verspricht diesem, mit vielen wertvollen Dingen zurückzukehren, wenn er seine Tochter dann mitnehmen dürfe. Allerdings ahnt er bereits, dass sie erwachsen geworden ist und ihr eigenes Leben leben möchte. Da Corta-Cabeça das Schlauchboot leck geschossen hat, besinnt sich Fred darauf, dass er einst die zweihundert Meter Lagen in 2:17,08 geschwommen ist ("Rang 320 in der inoffiziellen Jugend-Weltrangliste"!), und schwimmt mutig, aber unverrichteter Dinge zur "Atlantis" zurück. Bei sich hat er zwei Qi Gong-Kugeln, die ihm vom "Chinesen", einem der Piraten, geschenkt wurden, da Fred sie auf Anhieb in der Hand und sogar über die Arme und den Rücken kreiseln lassen konnte. Diese Fähigkeit symbolisiert nun und auch im Folgenden die Verwandlung Freds – ein quasi esoterisches Motiv des Romans, über das die Rezensentin mehrfach den Kopf schütteln muss.
Das Ende ist schnell erzählt: Auf der "Atlantis" bemerkt mittlerweile fast jeder, dass mit dem Schiff irgendetwas nicht stimmt, da es schief liegt. Die Piraten haben dies schon viel früher gesehen und gespürt. Hektik bricht aus, später Panik.
Nur Anne Bonny, die ihre kleine Tochter auf Seeräuberart mit Tamaras Hilfe zur Welt gebracht hat und nichts mehr von dem Kind wissen will, beschließt, auf der "Atlantis" zu bleiben, auch wenn diese untergeht. Denn hier hat sie alles, was sie braucht: Rum, Essen und einen gemütlichen Lebensrest.
Fred, Tamara mit Anne Bonnys Baby Ronja, Tom und Salvino brechen heimlich mit einem der Rettungsboote auf in Richtung "Fin del Mundo". Die einen, weil sie Malvi zurückholen und Störtebeker seine Tochter übergeben möchten, der andere, weil ihm die "beste aller Welten" nach Emilys Berichten über deren Historie der letzten zweihundertfünfzig Jahre, mit zwei auch für einen Piraten unvorstellbar grausamen Weltkriegen, nun doch nicht mehr erstrebenswert erscheint. Zwar hält Salvino die Vergangenheit der "Babelianer" für fiktiv und glaubt, sie seien ein von der wirklichen (seiner) Welt isoliertes Volk. Aber weil sie freiwillig unter einem riesigen Netz (dem Internet) leben und darüber hinaus derartig grausame Fiktionen ihrer Geschichte entwerfen, will er nun doch nicht mehr einer von ihnen werden.
Es kommt anders: Malvi weigert sich, die "Fin del Mundo" zu verlassen, Störtebeker will sein Kind nicht annehmen, und Salvino fühlt sich in seiner alten Umgebung nicht mehr zu Hause. Und so fährt die unvollständige Familie Dreher mit dem Baby weiter in Richtung Festland. Salvino repariert Daans Schlauchboot und macht sich auch auf den Weg. In der "besten aller Welten" fühlt er sich nun ebenso fremd wie in der "schlechtesten" auf dem Seeräuberschiff.
Als Tamara und Fred mit Hilfe der Küstenwache am 15. Mai 2015 in Curaçao gelandet sind, erfahren sie, dass die "Atlantis" bereits zwei Tage nach dem Sturm, in der Nacht vom 3. auf den 4. April, gesunken ist. Sie haben nach offizieller Darstellung also 41 Tage im Rettungsboot auf dem Meer verbracht. Ein Schoner namens "Fin del Mundo" ist unbekannt.
Doch Tamara und Fred haben sich verwandelt. Sie gehen ehrlicher miteinander um. Fred will seine Firma aufgeben, Tamara in ihren alten Beruf als Hebamme zurückkehren. Die Räubertochter Ronja geben sie als ihr eigenes Kind aus. Wo sich Malvi befindet, weiß niemand.
Salvino ist letztlich doch irgendwo in der Karibik in der Welt der "Babelianer" gelandet. Er wohnt im Haus von Huguette und schreibt dort seine Erlebnisse auf. Doch einer wie Salvino will weiter, bis das "Spiel seines Lebens" zu Ende geht.
Der Roman hat, wie gesagt, zwei Ich-Erzähler. Der eine erzählt im Präsens, der andere weitgehend im Imperfekt. Diese Erzählhaltungen erklären die beachtliche Dicke des Buches von 575 Seiten. Ein Ich-Erzähler kann ja nicht glaubwürdig straffen, es sei denn, er hätte schon im Buch jemanden, dem er seine Erlebnisse erzählt. Vom Inhalt her hätten dem Roman zweihundert Seiten weniger sicher gut getan. Obwohl sich Fred etwas redundant selbst darstellt, ist seine Verwandlung für die Rezensentin nicht recht nachvollziehbar. Zumindest den Sinn ausufernder Beschreibungen rollender Qui Gong-Kugeln kann sie nicht nachvollziehen.
Schön ist das Spiel mit dem Leser, das der Autor treibt, indem er Personen wählt, die wirklich gelebt haben wie Anne Bonny und auch Störtebeker (der allerdings in der falschen Zeit unterwegs ist), aber auch halbfiktionale wie Salvino d'Armato degli Armati, den erfundenen Erfinder der Brille (und in der Schlussbemerkung des Romans vermutlich auch noch Alessandro della Spina, hier nur Alessandro genannt). Witzig ist, dass sich am Ende der Autor gar als Chronist des Untergangs der "Atlantis" zu Wort meldet und damit auch Erzählperspektiven in Frage stellt – ein Verwirrspiel.
Freds Sprache und Denken passen in einen Unterhaltungsroman. Dass er Bücher von Haruki Murakami liebt, könnte allerdings schon frühzeitig im Buch ein Hinweis darauf sein, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Auch das Mond-Motiv kennt man aus dem Roman "1Q84" des Japaners. Salvino, mit der umfassenden Bildung eines Menschen aus dem 18. Jahrhundert, seinem an Platon und Leibniz geschulten Blick auf die Welt und seiner eleganten, ironischen Sprache, hat das Zeug zum Protagonisten eines intelligenten gesellschaftskritischen Romans. Da "Der Fisch in der Streichholzschachtel" dies alles miteinander vereint, hat das Buch für die Rezensentin etwas von einer eierlegenden Wollmilchsau unter den Romanen von 2015.
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