„Wir spinnen Luftgespinste“
Matthias Claudius, der sich selbst Asmus nannte und als kritischer Wandsbecker Bote verstand, nach seinem Wohnort vor den Toren Hamburgs, muß ein überaus sympathischer Mann gewesen sein — zumindest bis zu seinem 49. Lebensjahr, folgt man Martin Geck, Professor für Musikwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund, der sich nach Bach, Schumann und Wagner in seiner neuen Biographie nun dem großen „Unzeitgemäßen“ des achtzehnten Jahrhunderts zugewandt hat. Matthias Claudius starb vor zweihundert Jahren, am 21. Januar 1815 am Jungfernstieg im Haus seiner Tochter Caroline, die ihm das große Wohnzimmer mit Blick auf die Alster freigeräumt hatte. Dieses Datum erklärt vielleicht, warum bereits drei Jahre nach der Biographie von Annelen Kranefuss (2011) eine weitere erscheinen durfte. Man kann jedoch beide mit bleibendem Interesse hinter- oder nebeneinander lesen, denn es ergeben sich, abgesehen von den unvermeidlichen Lebenskoordinaten, nicht allzuviele Wiederholungen. Geck wählt bewußt einen anderen Zugang als Kranefuss — ihre Darstellung nämlich verknüpft die biographischen Umstände mit den historischen, gesellschaftlichen und literarischen, Geck hingegen konzentriert sich etwas stärker auf die Persönlichkeit und den Charakter, wobei er einen besonderen Schwerpunkt auf die raffiniert eingesetzte Volkstümlichkeit des Liedschaffens legt. Kranefuss ist um eine möglichst sachliche, objektive Schilderung bemüht — was der guten Lesbarkeit keinen Abbruch tut — , Geck scheut sich nicht, einige subjektive Noten und empathische Spekulationen einzustreuen; diese sind allerdings wenig aufdringlich und bezeugen die starke Wirkung, die Claudius heute noch mit manchen Texten ausübt, zumal wenn sie Rückschlüsse über deren Verankerung im Kulturgut gestatten.
Sehr anschaulich werden die dichterischen Anfänge des 1740 geborenen Matthias Claudius geschildert, der sich zunächst, wie von einem Pastorensohn erwartet wurde, für ein Theologiestudium einschrieb, nach einem Jahr aber zur juristischen Fakultät wechselte, um Kameralwissenschaften zu studieren — „[a]llerdings ist Claudius von den neuen Fächern nicht begeistert; seine Leidenschaft gilt jedenfalls der schönen Literatur“. Er verläßt die Universität ohne akademischen Grad, nimmt eine Sekretärstelle an, wird aber bereits nach einem Jahr wieder arbeitslos. Man spürt, daß hier einer von früh an mit den gesellschaftlichen Erwartungen hadert und lieber mittellos ist, als in einem stupiden Job zu versauern. Das Glück kommt ihm in Gestalt von Vermittlungen zuhilfe: Vom Beiträger der Hamburger „Adreß-Comtoir-Nachrichten“ führt der Weg durch allerhand Widrigkeiten zum Redakteur und Herausgeber des „Wandsbecker Bothen“. Dort wird er hinter humoristischer Maske zum erklärten Verfechter von Toleranz und Menschenliebe, wenngleich innerhalb der Grenzen seiner hohen Religiosität.
Im Juli 1775 ist Claudius wieder ohne feste Anstellung. Er muß einen Posten in Darmstadt übernehmen, auf dem er sich wegen seiner Aufrichtigkeit keine Freunde macht. Die schwere Baufellentzündung, die genau am Tag seiner Kündigung ausbricht, läßt sich unschwer als psychosomatisches Zeichen deuten. Zurück in Wandsbeck plagen ihn die üblichen Geldsorgen, die üblichen Anbiederungen. Doch ist dies nur die eine Seite des Matthias Claudius, die andere: der immer mehr geachtete Dichter, der sich kühn in verschiedene literarische Dispute einmischt, etwa in den Religionsstreit zwischen dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze und Julius Gustav Albert, wobei Claudius „sich in beide Kontrahenten hineindenkt“ und „mit dem Aufruf zu gegenseitiger Toleranz endet“ — und der Familienmensch, der sich oft entgegen der Norm verhält, indem er zum Beispiel in abgeschabtem Morgenrock Besucher empfängt oder vorm Haus mit seinen Kindern auf dem Rasen tollt, sehr zum Ärgernis der vorbeiflanierenden Bürger.
„Claudius [ist] immer zufrieden und munter“, berichtete Johannn Heinrich Voß, das änderte sich aber mit dem Ausbruch der französischen Revolution und deren Folgen. Claudius vertrat konservative Positionen, wurde unleidlicher, halsstarriger, wetterte stärker als zuvor gegen die ihm unerträgliche Freigeisterei und machte sich, in seiner Verzweiflung, sogar für die Wiedereinführung der Pressezensur stark. Die Aufklärung konnte er nicht mehr mittragen, sie führte in seinen Augen zur Auflösung der Ordnung mittels Gewalt und gefährdete die metaphysische Dimension des Menschen. Martin Geck macht diese verschiedenen, widerstreitenden Charakterzüge des Dichters nachvollziehbar und zeigt, um Verstehen bemüht, seine dichterischen Stärken und menschlichen Schwächen. Mit dem Gefühl, nicht mehr in die eigene Zeit zu gehören, nimmt auch Claudius’ literarische Eleganz ab, bitter und dogmatisch werden die Texte. Doch mit einigen Liedern ist er unbedingt auf der Höhe seiner Epoche, hat originelle Beiträge geleistet — keiner sang zuvor ein solches Lob des Winters —, die zum dauerhaften Bestand der deutschen Lyrik bis heute gehören.
Zwar hat Geck mit seiner Darstellung keine neue Forschungsarbeit geleistet, aber die bisherige umsichtig zusammengefaßt. Auf jeden Fall gelingt es seinem Porträt, ein lebhaftes Schlaglicht auf diesen namentlich wohlbekannten, aber nur wenig gelesenen Autor zu werfen, der hinter aufgesetzter Naivität scharfe Kritik äußern kann und bei all seiner (heute zuweilen befremdlichen) Widersprüchlichkeit mehr zu bieten hat als das (genau besehen überaus erstaunliche) Lied vom aufgegangenen Mond, zum Beispiel zeitkritische Zeilen wie diese aus dem Gedicht „Der Schwarze in der Zucker-Plantage“:
Weit von meinem Vaterlande
Muß ich hier verschmachten und vergehn,
Ohne Trost, in Müh’ und Schande —
Ohhh die weissen Männer, klug und schön! —
Und ich hab den Männern ohn’ Erbarmen
Nichts gethan —
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