Wie Grenzen sich verschieben und andere Welten entstehen
Martina Weinhart hat es in ihrem eröffnenden Essay sehr treffend gesagt: „Wer ein Künstler ist und was unter welchen Bedingungen als Kunst gelten kann, das wird immer wieder neu verhandelt.“ Und die Verhandlungen führt eine gesellschaftliche Schicht, die sich berufen fühlt künstlerische Äußerungen und Behauptungen zu bewerten und so zu entmischen, daß man das aktuell Gelbe vom Ei vor sich hat. Der Kunstbetrieb ist vielschichtig reaktiv, aber er beschränkt sich dabei auf ein Inside, das Ausweise fordert, Kunststudium, Beziehungen, Ausstellungserfolge, Presse. Keine Presse ohne Ausstellung, keine Ausstellung ohne Studium und/oder Empfehlung des Profs. Die Gesellschaft hat die Definitionshoheit und die Verhandlungskompetenz abgegeben in eine elitäre Kunstlandschaft, die sich entlang eigener Handläufe austreppt. „So wird ein Innen und ein Außen definiert und eine legitime Hochkultur von den Banalitäten des Alltags geschieden.“, schreibt Martina Weinhart.
Von Zeit zu Zeit, oft, wenn die Impulse im Innern zu flach sind, um Großes zu bewegen, erinnert sich diese Kunstlandschaft an das Außen und man entdeckt wieder, daß das Künstlertum im Menschsein an sich verankert ist und nicht im universitären Hallraum allein.
In der gerade eben zu Ende gegangenen Ausstellung „Weltenwandler“ hat die Frankfurter Kunsthalle Schirn zusammen mit der Kuratorin Martina Weinhart uns einen Blick in Räume ermöglicht, die völlig außerhalb des Kunstbetriebes (teilweise unter dem Mantel der „Geisteskrankheit“) entstanden sind und in denen sich Kunstvolles ereignet, das nie daraufhin ausgelegt war „Kunst“ im Sinne der Hochkultur zu sein, sondern nur dazu diente, eigenen Kontext ausfließen zu lassen, indem man ihn darstellt und damit gegen jede Norm die Möglichkeit des Eigenen dokumentiert. Daß dieses Eigene etwas vollkommen anderes ist, interessierte dabei die Urheber der vierzehn ausgestellten Werkgruppen überhaupt nicht. Im Gegensatz zu der angestrengten Suche nach einer Lücke, nach bislang nie dagewesenen Form- und Bildwelten, die der akademisch sich schulende Künstler hinter sich bringen muß (und die, wenn er erfolgreich eine findet, dann vielleicht nicht mal genau seine Lücke ist, sondern nur ein noch unbesetzter Platz), spürt man aus den Bildern und Skulpturen der Ausstellung eine absichtslose Präsenz, die nur deshalb so stark von der Norm divergierend anders ausfällt, weil es diese Normen darin nicht gibt. In ihnen geschieht der eigentliche Urmoment der Kunst, nämlich das Spiegeln. Und je nach individuellem Kontext bricht dieses Spiegeln in die Welt ein, mit Tusche, Wollfäden, Elektronikschrott, Buntstiften. Was der Zufall an die Hand gibt wird zum Material, was die innere Welt betrifft, wird an das Material gebunden und losgelassen.
Kunst von 14 Menschen, die aus der Sicht der Normalwelt als Outsider gelten, hat Martina Weinhart in eigenen Räumen dargestellt, sodaß auch aus dem Besucher ein Weltenwandler wird.
Da ist die Londonerin Madge Gill (1882-1961), die am Ende des ersten Weltkriegs zwei Kinder kurz nacheinander verliert, ein Sohn stirbt 1918 an der Spanischen Grippe, eine Tochter wird 1919 tot geboren. Traumatische Erlebnisse, die ihr den Schlaf rauben. Irgendwann muß ihr in diesen Nachstunden ihr Geist, sie nennt ihn Myrninerest, erschienen sein, und mit ihm das, was von ihr übrig ist und den sie malt: ein immerwiederkehrendes Frauengesicht. „Es ist ihr erstarrtes, ja ihr eingefrorenes Selbsportrait im Moment des Schmerzes, das die Frage nach dem Warum auf immer festhielt. Das Gesicht ist gefangen zwischen sich windenden Treppen und Gitternetzen, zwischen Schachbrettmustern , Rauten und flächigen Schraffuren.“ beschreibt Sabine Doering-Manteuffel wunderbar treffend im Katalog die Machart der tausenden und abertausenden Zeichnungen, die Madge Gill bis zu ihrem Tode, meist in schlaflosen Nächten, anfertigt.
Da ist Judith Scott (1943-2005), die als Zwillingsschwester geboren wird, aber nur alleine das Down-Syndrom zeigt. Sie wächst zunächst bei ihrer Familie auf, wird im Alter von sieben Jahren aber jäh von ihr und der Zwillingsschwester Joyce getrennt und in eine Umgebung ohne pädagogische Betreuung gesteckt. Daß sie taub und deshalb stumm ist, entdeckt man erst hier. Vorher galt sie als „unbildbar“. 35 Jahre wird sie in Heimen verwaltet, bis sie 1986 von Joyce, die nun auch ihr Vormund geworden ist, zu sich nach Kalifornien geholt wird. In Oakland besucht sie das Creative Growth Art Center und begegnet dort bei einem Kurs für textiles Gestalten einem Material, mit dem sie umzugehen beginnt – Wollfäden. Sie streicht durch den Raum, sammelt Fundstücke ein, Damenschuhe, einen Ventilator, einen Regenschirm, Äste und Stangen, Styroporbrocken, bringt sie zusammen und umwickelt sie. Wickelt, verknotet, schnürt zusammen. Bunte Schnüre, Fäden, Kordeln halten zusammen, was im Inneren heil bleibt, eine Art Kokon entsteht. Das Innere wird gleichzeitig geschützt aber auch eingeschnürt, eine bunte Welt, eine Hülle aus undurchdringbarem Gewirr umgibt die Dinge im Kern. Es ist, als beschriebe sie mit diesen Skulpturen das, was ihr zeitlebens widerfahren ist.
Da ist A.C.M (*1951), der eigentlich nicht so recht in die Ausstellung zu passen scheint, weil er Kunst studiert hat, immerhin fünf lange Jahre an der Kunsthochschule von Tourcoing. Er beendet das Studium von heute auf morgen und vernichtet all seine bis dahin entstandenen Kunstwerke. Eine Sackgasse. Mit großer Konsequenz wendet sich A.C.M. vom akademischen Kunstbetrieb ab und versucht, als er zwei Jahre später zusammen mit seiner Frau Corinne in das leerstehende Haus seiner Familie zieht und durch die angrenzende, dazugehörige, ebenso verlassene Weberei-Werkstatt schreitet und dort tausenderlei unbrauchbar gewordenen Dingen begegnet, etwas anderem nachzuspüren, das spürbar mehr mit ihm zu tun hat, aber deswegen nicht weniger künstlerisch ist – er will die Dinge retten, er will Unscheinbares transformieren in Wunderbares, er nimmt, was vor sich hinzerfällt und fügt es neu. Die alte Werkstatt wird seine Werkstatt. Hier wird gearbeitet. Er kann das Kleinste nehmen und Großes daraus machen, das ist sein Job, sein Tun. Und er kann es, weil Corinne, seine Frau, ihm die Ruhe und die Kraft dazu gibt. Deswegen nennt er sich Alfred Corinne Marié – Alfred und Corinne verheiratet – A.C.M. – und erschafft wundervolle Skulpturen aus zertrümmerten Leiterplatten, Garnspulen, Elektronikschrott, zerlegten Uhren. Er geht über die Felder im Dorf und sammelt, hebt auf, was andere wegwerfen und nicht achten. Das Kunstvolle ist überall da und muß nicht zwanghaft erfunden werden.
Dies sind nur drei Beispiele, die ungefähr verdeutlichen, um was sich diese Zusammenschau dreht. Faszinierend ist, wie sich im Bildnerischen eigene Kontexte zeigen, auch ohne intellektuelle Hochkulturverneigungen – auf welche Weise sich seelische Landschaften zeigen, Spiegel sind inneren Geschehens, unverfälscht und unkorrigiert von normativen Einstreuungen der Kunstwelt.
Der zweisprachige (englisch-deutsch) Katalog zur Ausstellung ist nahezu ausverkauft – wer noch ein Exemplar bekommen kann, sollte nicht zögern. Nicht nur die Einzelartikel zu den reichhaltig mit großformatigen Bildern vertretenen 14 Künstlern: A.C.M., Aloise, Emery Blagdon, Henry Darger, Auguste Forestier, Madge Gill, Karl Junker, Friedrich Schröder-Sonnenstern, Judith Scott, Oskar Voll, August Walla, George Widener, Adolf Wölfli und Birgit Ziegert sind lesenswert, sondern vor allem auch Martina Weinharts excellenter Essay über „Die Kunst der Outsider als Demarkationslinie der Moderne“ inclusive einem historischen Abriß der Art Brut. Die Frankfurter Schirn hat wieder einmal gezeigt, was für ein lebendiger Kunst-Ort sie ist, der immer wieder herausragende Rundumblicke und Detailansichten ungewöhnlicher Positionen beisteuert.
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