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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
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ostra-gehege Zeitschrift für Literatur und Kunst
Kritik

Die Zukunft als Zumutung

Hamburg

Um mal einen ehemaligen Verteidigungsminister abzuwandeln: Deutschland wird am Hindukusch erzählt. Jedenfalls in diesem Roman. Für seine Handlung entwirft Matthias Politycki ein kühnes Szenario: Er versetzt seine Leser in eine nicht allzu ferne Zukunft, man schreibt die Jahre 2026/27/28. Deutschland verfügt über keine nationale Identität mehr, es ist ein von Krieg zerrissenes Land, durch Hamburg verläuft eine unklare Front zwischen höchst merkwürdigen Allianzen und Kriegsparteien.  Russische Kräfte machen gemeinsame Sache mit Salafisten und scheinen die Oberhand gewinnen. Verteidigt wird Deutschland hauptsächlich von sogenannten „Deutschländern“, also eingebürgerten Deutschen  mit Migrationshintergrund, während gebürtige Deutsche sich in alle Himmelsrichtungen verstreut zu haben scheinen. Dass sich in diesem Roman-Setting die deutsche Identität sang- und klanglos in einer Art internationalem Bürgerkrieg verflüchtigt und ausgerechnet von Deutschtürken noch hoch gehalten wird, mögen manche bereits als Zumutung empfinden. Allein wie Politycki Hamburg, (eine Stadt, in der er lebt) als Frontstadt beschreibt, löst schon Unbehagen aus:

Als die Dämmerung einsetzte und die Deutschen zu rennen anfingen, auf daß sie noch rechtzeitig nach Hause kamen, rief der Muezzin vom Turm der St. Jo­han­nis-Kirche zum Gebet. Wie immer antworteten die Russen von der anderen Alsterseite mit Maschinengewehrsalven, kurz darauf mit russischem Hardrock. Sie hatten die Minarette der Blauen Moschee, in der sie ihr Hauptquartier eingerichtet, mit solch gewaltigen Boxen bestückt, daß die Musik über der zugefrorenen Alster stand, ohne zu verzerren. Vom Gesang des Muezzins war nichts mehr zu hören, stattdessen das Gedröhn der Geschütze, die nun von türkischer Seite abgefeuert wurden. Auch wenn keine einzige Rakete in den Himmel steigen würde, sobald um Mitternacht das ’27er-Jahr anbrach, gehörig knallen würde es, das stand fest. Dazu hatte es in den letzten Tagen zu viele Provokationen gegeben, die Selbstmordanschläge rund um Weihnachten im russisch kontrollierten Ostteil, die Rachefeldzüge der Todesschwadronen durch den Westteil. Ohnehin wurde nach Einbruch der Dunkelheit auf jeden geschossen, den Milizen, Jugendbanden oder Scharfschützen entdecken konnten.“

Die eigentliche Zumutung dabei ist nicht so sehr die Tatsache, Hamburg in Trümmern zu sehen, sondern das unbestimmte Gefühl, dass Politycki nicht ganz unrecht haben könnte mit seiner Zukunftsvision, dass er eben kein komplett aus der Luft gegriffenes Szenario entwirft, sondern die innen- und außenpolitisch angelegten Wirklichkeiten – zugegebenermaßen mit einer großen Lust an der Provokation –  lediglich ein wenig voraus spinnt.  Damit nicht genug der Kühnheiten. Politycki erfindet einen Helden mit heiklem Auftrag. Der Deutsche Alexander Kaufner, ausgebildeter Gebirgsjäger und erfahrener Grenzgänger, wird ins Auge des Konflikthurrikans – in die Grenzregion zwischen Usbekistan, Tadschikistan, Kirgisien, Kasachstan und Afghanistan – geschickt, um den Ort einer geheimen Kultstätte zu finden, die über Sieg oder Niederlage entscheiden kann. Er soll diesen Ort aber nicht nur finden, sondern wohl auch zerstören. So lässt es Politycki unausgesprochen mitschwingen. Ein Deutscher als Terrorist, der ein Attentat verüben soll, das dem 11. September 2001 vom Symbolwert her durchaus vergleichbar ist. Wurden damals von den islamischen Terroristen mit den World Trade Türmen die „Schwurfinger des Kapitalismus“ (Botho Strauß) gleichsam abgehackt, soll Kaufner hier eine Stätte von großer Bedeutung für den Islam in Schutt und Asche legen.  Die Erschütterungen, die dieser Anschlag in der islamischen Welt auslösen würde, könnte die Welt-Aufmerksamkeit weg von den europaweit verlaufenden Frontlinien wieder zurück auf den eigentlichen Ausgangspunkt des Konflikts, den Hindukusch, lenken. Wo sich diese sagenumwobene Kultstätte befindet, ist allerdings unklar. Vielleicht ist sie auch ein Mythos ohne reale Gestalt. Auf der Suche nach dieser Stätte bewegt sich Kaufner durch das zentralasiatische Bergmassiv, hat Begegnungen mit ebenso unheimlichen wie faszinierenden Gestalten wie z.B. dem Kirgisen, der gleich auf den ersten Seiten des Romans auf unvergessliche Weise plastische Kontur gewinnt. Ein weiteres Faszinosum: Ob unterwegs in den Bergen oder zu Gast bei einer Familie in Samarkand, es sind immer kindliche Führer, die Kaufner ortskundig den Weg aufzeigen. Durch die unwirtliche Bergwelt Zentralasiens begleitet ihn Odina, der ihm durch den Ehrenkodex seines Stammes verpflichtet ist, in Samarkand wird er beschützt durch das wunderliche Mädchen Shochi, das über die seltsame Gabe verfügt, die Zukunft träumen zu können. Vielleicht ist es die traumwandlerische Sicherheit dieser Kinder, an die man sich in Zeiten trügerischer Gewissheiten und Loyalitäten nur noch halten kann. Allein wie Politycki die spannungsgeladene Atmosphäre Samarkands einfängt, die nächtlichen Schüsse, die willkürlichen Übergriffe einer korrupten Polizei, das Einsickern sinisterer Gruppierungen, kurz: die Stadt als Herd eines bald überkochenden Konfliktes, ist brillant.  Und das Ende? Gelingt es Kaufner, die Kultstätte zu finden und zu zerstören? Das wird hier nicht verraten, nur soviel:  Man ertappt sich als Leser dabei, dass man sich wünscht, sein Anschlag möge gelingen. Dieser Roman mag ein Wechselbalg sein aus Abenteuer-, Liebes-, Zukunfts- und Untergangsroman, der einem als Leser keinerlei weltanschauliche Gewissheiten bietet, eher Unruhe stiftet. Die einzige Verlässlichkeit liegt – wie immer  bei Politycki – in seiner durchrhythmisierten Sprache, seiner ausgefeilten Stilistik. Hinzu tritt dieses Mal noch ein dramaturgischer Mumm, den man in der deutschen Gegenwartsliteratur sonst vergeblich sucht.  Politycki wagt etwas – und gewinnt auf der ganzen Linie.

Matthias Politycki
Samarkand Samarkand
Hoffmann und Campe
2013 · 400 Seiten · 22,99 Euro
ISBN:
978-3-455-40443-2

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