Die Gegenwart und ihre Sedimente der Gewalt.
Das Angenehme an Max Czolleks Lyrik ist die Tonalität ihres Erzählers, der uns durch die sprachliche Welt des Bandes führt. Klingt „angenehm“ wie ein Weichspüler? Als wäre „Jubeljahre“ ein Band voller gefälliger Texte? Das ist er bei weitem nicht: gleich zu Beginn wird klar, dass die Stimme des Textes zu ihren Worten kommt, um etwas mitzuteilen, das außerhalb des sprachlichen Systems liegt. Eine Sehnsucht nach Welt scheint durch, eine Sehnsucht nach Veränderung auch. Nicht Simulation, sondern Dissimulation, das Entlarven der Schwachstelle Realität, ist auf die Fahnen dieses Buches geschrieben. Appellation als Modus des Sprechens wird zu einer Operation, die die Sprache als Werkzeug nutzt, das zugleich das Verstehen versucht und zerstreut, in der Hoffnung damit etwas in der Welt jenseits der Seiten zu verändern. Wenn Czolleks Sprache damit nicht monologisch ist, dann ist sie dialogisch, in dem Sinne, dass die Gegenwart hier durchscheint, gerade so verzerrt, dass wir sie wiederkennen, weil wir das sollen. Weil wir die Adressanten sind. Wir, die Leser, ohne die diese Texte nicht existieren könnten. Die Gedichte verlangen nach wachen Rezipienten und goutieren sie folgerichtig. Eine Geste, die die Lyrik der Gegenwart nicht immer vollzieht.
Die gleiche Lesart, die diese Gedichte verlangen, wenden sie auch in ihrer Perspektive auf die europäische Kulturgeschichte an, die als Deutungspfad zur Gegenwart gelesen wird. Was dabei als europäische Kulturgeschichte durchgeht, ist oft religiöser Mythos, aufgewärmt als Ursuppe unserer Imagination. Der künstliche Zeitstrahl, an dem die Texte aus einigen der Zyklen aufgehangen werden, lässt sich schnell als Konstruktion entlarven. So sehr er konstruiert ist, so sehr die Verbindung und Verbrämung alttestamentarischer Bilderwelt ambigerweise nah und fern wirkt, dieser Hinweis geht nicht spurlos am Leser vorbei. Ohne damit zu offensichtlich umzugehen, ist die Geschichte, die an diesem Zeitstrahl entlangläuft, nicht vor Stolpersteinen unseres Denkens geschützt. Czollek entlarvt dann die Gewalt, die in unserem scheinbar friedvollen Alltag noch immer eingeschrieben ist. Unser Konsum, unsere Verdrängung, unsere Erinnerung: sie werden zu verschütteten Splittern, die die sorgsame Herangehensweise der Sprache hervorholt, wie archäologische Funde.
„Wenn es schon enden muss / dann will ich ein Massengrab / da liegt man wenigstens nicht allein“ öffnet das Gedicht Testament gleich in den ersten Zeilen. Ein treffendes Beispiel für die Schärfe der Sprache und ihre Gewalt, der Czollek sich bemächtigt. Ist das ironisch oder sarkastischer Galgenhumor? Ist das der Versuch mit einer Welt umzugehen, die in ihrer Boshaftigkeit am Ende banal ist? Die Geschichte scheint nur zu bewältigen zu sein, wenn sie angeeignet wird, mit allen Mitteln, zur Not mit Humor. Alles besser als selbstherrliches Vergessen jedenfalls, das sich als Erinnern selbststilisiert und noch immer Stränge des Diskurses der Verarbeitung deutscher Geschichte färbt. Doch nicht nur die Vergangenheit kommt durch die Worte zum Tragen, auch die bereits jetzt aufgenommene Schuld einer möglichen Zukunft ist Thema. So schließt das Testament mit den Worten: „durch den drucker wandern wälder / werden anderswo vermisst.“
Das Bewusstsein für die politische Realität bricht sich Bahn in einer Lyrik, die nicht anders kann, als abzubilden, ohne dabei anzuklagen. Die reine Darstellung genügt, um die Adressaten zu aktivieren. Das Appellieren verweigert sich dem Manierismus deutscher Gegenwartslyrik zumeist. Elegant kann man nur nennen, wie der Antisemitismus-Forscher der deutschen Sprache abverlangt sich mit ihrer eigenen Vergangenheit zu beschäftigen. Als wäre das kollektive Verdrängen, das kollektive Erinnern, in die Geister der Sprecher dieser Sprache eingeschrieben, fühlt es sich neu und fremd an, zu lesen, wie Czollek jüdische Kultur zugleich als Inspiration - aber auch als Vehikel nutzt. Dabei gibt es keine Kneifzangen oder Exotismus, keine Mühe entsteht, im Gegenteil: die innere Logik dieser in Lyrik versponnen Geschichten ist von einer Schönheit, die trotz kryptischer Momente, gefangen nimmt: „nicht mehr als ein Rohbau war dein himmel / unzureichend befestigtes Zelt / unter wölkchenhaut“.
Das unvermeidliche „Du“ kommt auch, diese kleinen Briefe, die sich in Lyrikbände verirren, situativ und zugleich auf Ewigkeit gestellt. Nicht immer gelingt der Sprung innerhalb aber auch zwischen den Zyklen von der großen Geschichte und der Tiefe der Sprache auf eine persönliche Ebene. Zu viel Verwobenes gewöhnen wir uns beim Lesen dieser Texte an, als dass wir plötzlich mit einem „Du“ umgehen wollen. Das hier sprechende „Ich“, es will nicht recht an Fleisch gewinnen und damit an Stimme. Kann dieser Modus des Sprechens in seinen besten Fällen zu einem Austausch führen, einer geistigen Erregung, verpufft die Sprache der Lyrik schlimmstenfalls beim Lesen und entlarvt sich als künstliche, gerade dann, wenn sie die Nähe zur Alltagssprache sucht. Auch der Pop hat hier Einzug gehalten, aber er will nicht richtig passen, in diese Jubeljahre, die wir wohl gerade durchleben.
Keine Rezension über ein Buch aus dem Verlagshaus J. Frank soll ohne einen Hinweis auf die Aufmachung des Buches sein. Der Lyrikband, in luftiger Typographie gesetzt, die sich wunderbar liest, kommt in einer leichten Aufmachung daher, die zum Schmökern und betrachten einlädt. Ein guter Rahmen für kontemporäre Lyrik und damit für die „Jubeljahre“. Ein guter Moment, um die Illustration von Varvara Polyakova zu erwähnen: schwarz-weiße, monochrome Ganzseiter, die im Gegensatz zum Text, nicht mit viel Weiß arbeiten. Eine willkommene Abwechslung für das Auge und angenehme Oasen für den Geist, der in diesen Bildern zugleich die neuen Zyklen angekündigt bekommt, als auch die alten verdauen darf. Mit einer Ästhetik, die eklektisch die Ästhetik der 20er Jahre atmet, fühlt man sich in die Gegenwart als eine aufregende, eine spannende und eine zu gestaltende Zeit versetzt. Das scheint auch der Zugang der in diesem Band versammelten Texte zu sein: die Gegenwart ist ein interessanter Ort. Ein Ort, der einer ungewissen Zukunft Ausgang ist. Dass diese Zukunft aus den Lehren der Geschichte zehrt, sich ihrer bewusst ist, kann man angesichts der aktuellen Krisen und Debatten nur wünschen. Wenn Czollek eines gelingt, dann die Verwehung zwischen unserer Sprache und unseren Ängsten aufzuzeigen. Keine Sphäre des gesellschaftlichen Lebens bleibt von den gemeinsamen Erfahrungen verschont. Auf Sprache ist kein Verlass, sie ist tückisch, denn sie entlarvt, was wir im Unterbewusstsein verstecken wollen. Ob die Zukunft eine Zeit zum Jubeln sein wird? Das Leben, es steckt tief in diesen Zeilen, und das Leben ist manchmal zu bejubeln. Und ein großartiges Thema, um darüber zu schreiben.
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