Durch Mühsal zu den Sternen
Ich kam spät nachhause. Als das Päckchen ziemlich aufgeweicht und ungeschützt vor der Haustüre liegt, beschließe ich es zu öffnen und auf dem Küchentisch zum Trocknen offen liegen zu lassen. Und überlege, ob ich meine Denkbewegung zur Ausstellung fixieren und als Korridor aufschreiben sollte, noch bevor ich einen Blick in den Katalog werfen kann:
Weltweit geht es um Dressur zur Kultur und die Frage, wie reihe ich die Mitglieder meiner Gesellschaft stabil in meinen Machtbereich ein, und wie verhindere ich, daß sie daraus ausbrechen oder womöglich das gültige Lebensmodell überwinden und eine Alternative etablieren. Man kann diese Fragen mit diktatorischen oder mit (pseudo)demokratischen Systemen beantworten, Ziel dabei ist immer dem Einzelnen einen Zellcharakter zu geben und die Begrenzung seiner Wirkfläche so festzuschreiben, daß er dem zugrundeliegenden System nicht gefährlich werden kann. Die moderne westliche Welt schafft es, dem Einzelnen dabei das Gefühl zu geben, seine Wirkfläche sei durch nichts begrenzt, seine Freiheit vollkommen, und verschweigt dabei, daß dies nur im Rahmen des Systems gilt (weil Freiheit als Systemeigenschaft gilt). Sie verschweigt, daß die Fläche eine zugewiesene ist, auf der ein Einzelner sich in definierter Weise zu bewegen hat als einem Kind des Textes und schon seiner bloßen Existenz damit ein „Mitgegangen – Mitgehangen“ vorgeworfen werden kann.
Es bleibt nicht aus, daß es Einzelne gibt, die es besser wissen oder zu wissen glauben, die ein Gegenmodell aufstellen und Verbesserungen vorschlagen, oder gar ihr Leben instrumentalisieren, um die Alternative aufzuzeigen, bis hin zum Sichselbstfinden im sichselbstverlierenden Märtyrerdasein. Wenn Zeit und Rahmen passen, finden sie Hörer, die zu Anhängern werden und zu Zellverbänden eigenen Rechts und Gesetzes. Wie bei Jeschua ben Josef, einem Prediger und Unruhestifter aus Nazareth, der als Sohn eines Allvaters allgültige Wahrheit zu empfangen fähig ist, welche die herkömmlichen väterlichen Wahrheiten und Traditionen kraft ihrer Allnatur überstimmen, und Regeln formulieren kann, die nicht mehr verhandelbar sind. Wer seine Wahrheit von dort bezieht, wo alles begründet ist, der braucht um ihr Wahrsein nicht fürchten.
Der Besitz der unabhängigen Wahrheit, die sich demjenigen offenbart, der sich losgelöst hat von allem, ist allen Propheten gemeinsam. Das Wort Offenbarung enthält das Öffnen und das Loslassen, das Nacktsein und die Abwesenheit von selbsterzeugtem Schutz, es meint die nackte Antenne. Wer mittellos der Welt gegenübersteht mit nichts als einem Hemd und Sandalen an den Füßen, der muß Kontakt haben mit dem Unverstellten, dem wird der Blick frei und der Geist leicht und schwebend. Wer sich bis ins Elementare entschlackt, ist erlöst und findet das saubere Wissen.
Um die Künder solchen Wissens geht es in der Ausstellung „Künstler und Propheten“. Und um die Vermutung, daß auch die Kunst der Moderne Impulse aus dem Wirken von Persönlichkeiten erhielt, die in der imitatio christi zu leben sich vornahmen oder vergleichbare Erlösungsversprechen abgaben.
„Eine geheime Geschichte der Moderne 1872-1972“ lautet der Untertitel und impliziert, daß es eine Geschichte hinter der Geschichte gibt, daß es Einflüsse, Personen, Akteure gab, die Wesentliches bewirkten, ohne bislang erkannt zu sein. So werden Kohlrabiapostel (u.a. Diefenbach, Gusto Gräser, Gustav Nagel), Dadaakteure (Baader) und Kunstschamanen (Beuys), miteinander verrührt, Impulsgeber mit Impulsnehmer, und es ist nicht einfach, die große Linie zu finden, die sich entlang eines oft offensiven und provokanten Andersseins zeichnen läßt.
Was die Ausstellung zusammenwirft, ist die Erscheinung der Ausnahme. Der Künstler als Sucher eines Heiligen, das sich weder in der Egomanie (aber manchmal vermeintlich in der Egozentrik), noch im gesellschaftlichen Leben finden läßt, sondern von allem losgelöst, im Abseitigen der Kunst, im Paralleluniversum des Nichtichs, wird in einen Topf geworfen mit der Figur des Propheten, der andere Wahrheit erfahren hat aufgrund seiner Ichlosigkeit. Der Mensch der Ausnahme, der Outsider, kann aufgrund seiner Position außerhalb des Normalen Kunst erzeugen, die beispiellos ist, oder Wahrheiten sagen, die sonst keiner kennt. Er wird zum Heiligen durch Entsagung und Narretei.
Aber genau diese Heiligkeit funktioniert in der heutigen Zeit nicht mehr. Wir wissen spätestens seit Expressionismus & Co. von der Schwärze, die man wahllos füllen kann (2015 wird Kasimir Malewitschs "Schwarzes Quadrat auf weißem Grund" 100 Jahre alt). Wir haben alle Herkunft entwertet und jeden Sinn leergeprüft. In unseren Laboren entsteht nichts Heiliges, sondern Wissen aus dem Experiment. Uns muß niemand ein Licht anzünden und wir stehen davor und halten vor dem Wunder inne – wir wissen wie's geht.
So wirken die ausgestellten Beuys und Immendorff in diesem neuen Zusammenhang als „gewollte Heilige“, verspätete Granden der Kunst, Propheten ihrer Ideen, die fest in ihrer ureigenen Nichtsverwindung leben und keine Zweifel zulassen. Ein Sendungsbewußtsein, das (u.a. mithilfe der Kunst) zum Verkünden drängt, das Närrische des Weltverbesserns, das sich aus vielerlei Gründen erzeugt, ist der Leitfaden, an dem die Ausstellung ihre Exponate kreuz und quer aufhängt und das einen Mix erzeugt, mit dem der Besucher zunächst allein gelassen ist. Was hat ein jugendbewegter Muck-Lamberty mit Egon Schiele zu tun, ein polternder Haeusser mit Beuys?
Der Ausstellungskatalog gibt – endlich getrocknet - Auskunft:
Diefenbach-Fan Arthur Roessler nahm sich 1911 die Freiheit einen Text des von ihm bewunderten Malers Egon Schiele um einige ironische Zeilen zu ergänzen: „Es gibt tausend Gelehrte, worunter zehn Hellseher sind und unter tausend Gelehrten ein Genie, einen Erfinder, einen Schöpfer. Und wie viel tausend sind geschult? Es leben ungezählte Herren und Herrlein, aber dennoch ist mir meine Herrlichkeit am liebsten.“
Die Herrlichkeit ist es. Die Strahlkraft des Absonderlichen und des Besonderen, positiv ausgedrückt: der Einzigartigkeit. Der Mut zur Andersartigkeit, die sich im besten Fall verständlich und nachvollziehbar begründen läßt. Man kann Herr sein, ohne Herrlichkeit. Zur Herrlichkeit braucht es den Kontakt zur höheren Gültigkeit. Darum ist Jeschua ben Josef der Sohn des Herrn, in einer kuriosen dreifaltigen Konstruktion sogar ein Teil von ihm. Die Herrlichkeit Schieles meint (trotz Wortspiel und Ironie) die Teilhabe an Göttlichem. Das Selbstopfer an die Kunst läßt ihn verschwinden, aber in der Kunst taucht er göttlich wieder auf. Wenn Selbstopfer eine Tat begründen, ist auch die Heiligkeit nicht mehr weit.
Überhaupt hilft der über 500-seitige Katalog dem Ausstellungsbesucher mehr auf die Sprünge, als es die Begehung der Räume aufgrund des abstrakten Themas kann. Kuratorin Pamela Kort hat hier ganz allein unglaublich viele, sehr schwierig erreichbare Fakten zusammengetragen und ihr Katalog wird wohl nach Linses „Barfüßige Propheten“ und Szeemanns Monte Vérita-Katalog zu einem Klassiker der Literatur über die sogenannten Kohlrabiapostel und Inflationsheiligen werden. Man kann erst in ihm im Detail die Einflüsse und Abflüsse nachvollziehen und so eine Geschichte, die Teil der Moderne war, weil sie eigentlich gegen die Moderne war. Sie ersetzte das Erleichterungsversprechen mit einem Erlösungsversprechen, erneuerte die Tempelszene, in der Jeschua ben Josef, die Händlertische umwirft. Konsum und Bequemlichkeit sind die Teufel der Moderne, sie bedienen ein Selbst, das dich verwirrt – nur die Mühsal der Eliminierung des Selbst macht dich frei und zu einem wahrhaften „Sohn Gottes“ (wie man zu Zeiten Jeschuas auch andere predigende Prophetenfiguren titulierte/illuminierte, bspw. den ebenso wunderheilenden Chanina ben Dosa – „Sohn Gottes“ war seinerzeit kein exclusiver Begriff). Per aspera ad astra.
Wie der aufmerksame Leser gemerkt hat, tauchen in der ganzen Geschichte keine Frauen auf. Die „Herrlichkeit“ gehört ganz dem männlichen Geschlecht. Der Mann ist der Strahler und man könnte auch sagen: Blender, der das Unheimliche der Welt zu besiegen weiß. An der Seite des richtigen Manns kommt das finale Zuhausesein in die Welt.
Zurück zur Ausstellung:
"Unser Ziel war einfach, auch über Quellenforschung, hier einen Vorschlag zu sehen, wie man auch eine Entwicklungslinie darstellen kann, ohne zu sagen, dass Beuys, Kupka, Schiele jetzt primär oder ausschließlich durch diese Figuren beeinflusst sind, aber was nicht von der Hand zu weisen ist, dass es hier eine sehr enge Verbindungslinie gibt und eine Beeinflussung, eine Auseinandersetzung, und wie wir argumentieren, durchaus auch eine formative Wirkung auf das Werk". Max Hollein, Direktor der Schirn Kunsthalle, in einem Interview.
Da klingt vorsichtig relativiert, was zuvor wie eine bislang geheim gebliebene Neuigkeit angekündigt wurde.
Alles in allem eine von der amerikanischen Kunsthistorikerin Pamela Kort zwar verwirrend angelegte Ausstellung, die dennoch weitreichend inspirieren kann. Vor allem dann, wenn man sich von der mannigfaltig möglichen Beeindruckung gelöst hat, auf die die Ausstellung natürlich auch baut: wer kennt schon diese kuriosen bis furiosen Gestalten, die hier aus der Vergessenheit hervorgeholt und als geheime Beeinflusser präsentiert werden? Gestalten, die schon vor über 100 Jahren als langhaarige Frühhippies ernst gemacht haben mit Pazifismus, Vegetarismus und dem Zurück zur Natur. Gestalten, die zu ihren Lebzeiten keine Angst vor dem Label Narr hatten und denen viele Intellektuelle und Künstler hinterherblickten voller Bewunderung für ihre Konsequenz, aber oft auch ohne den Mut ihre Beeindruckung öffentlich zu bekennen. Insofern ist die Geschichte ihrer Wirkung tatsächlich eine geheime, die ohne Bekenntnis auskommt. Auch Hermann Hesse, der 1907 zwei Wochen in Arcegno nahe der Felsenhöhle, die Gusto Gräser dort behauste, dessen nacktes Leben nachprobiert, duckt sich in späteren Jahren weg, wenn er (mittlerweile verbürgerlicht) in Ascona, im Restaurant in Gesellschaft sitzend, Gusto Gräser des Wegs kommen sieht. Die Geschichte der Propheten ist auch eine Geschichte der peinlichen Berührung und der heimlichen Feigheit, der Angst vor Entblößung und Bloßstellung, eine Geschichte menschlicher Schwächen.
Die Ausstellung läuft noch bis Mitte Juni in der Frankfurter Schirn. Der Katalog dazu ist ein wunderbares Puzzlespiel.
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