Ein weitläufiges Filmgelände
Natürlich wollte ich mich zu angemessener Zeit bedanken; aber einen kurzen Zwischenbescheid habe ich mit Absicht vermieden, weil ich weiß, daß ich dann zu einem längeren, oder sagen wir ausführlicheren Ding nicht mehr gekommen wäre; man hat so seine (reichen) Selbsterfahrungen. Wieviel ich jetzt zustande bringe, wird sich noch zeigen...
Also, lieber Michael Arenz, es hatte auch mit der Sache selbst zu tun: zunächst habe ich in den Poemen ein bißchen herumgekramt, dabei stieß ich auf allerlei, das auf Anhieb nicht unbedingt durchschaubar war, jedenfalls nicht für mich; keineswegs ärgerlich, aber doch wie noch ungelöste Aufgaben, die man nicht einfach herumliegen lassen möchte, denn das meiste ist einem klar; das macht neugierig, besonders wenn es spannend ist.
Nun sind einige Monate vom Kalender getropft; mit den Gedichten bin ich immer wieder herumspaziert; allmählich begann die Geographie sich umzukehren, und ich ging im Kreise der Poeme spazieren, und zwar nicht metaphorisch, sondern beinahe real. Das Ambiente war eigentümlich gemischt und veränderlich – wie ein weitläufiges Filmgelände mit vielen, sehr verschiedenen Drehorten. Gedreht wurde allerdings nirgends; da war keine Kamera, keine Beleuchtung, kein Technikerteam; aber wie Theater lief das auch nicht ab, denn es gab kaum gesprochenen Text, eher vernehmbare Gedanken. An jedem Handlungsort gab es dafür ein komplettes Stück, fast so gerafft, wie wenn eine DVD im Schnell-Tempo abgespielt wird, gleichzeitig fast bewegungslos, als würde da ein stehendes Bild vorgeführt. – Die Lichtverhältnisse änderten sich von Fall zu Fall, von fast undurchsichtiger Dunkelheit bis zur grellen Helle, von beißender Buntheit bis Nebelgrinsen...
Das schreibe ich jetzt aus der Erinnerung. Jedesmal wenn ich wieder begann, in dem Heftchen zu lesen – ich las dann bald auch immer von vorne bis hinten, in der richtigen Reihenfolge – entstand ein neues Totalbild: Einmal zum Beispiel befand ich mich in einem nicht näher definierten Gebäude, dessen Proportionen fortwährend wechselten, von Flughafenhalle oder Planetarium zu Gartenhäuschen oder Kurzwaren-Geschäftslokal. Das Ganze im Begriff zu verfallen, abrissgefährdet; da ist es nächtlich, da vormittäglich; nicht alles scheint auf den ersten Blick erkennbar, man muß achtgeben auf Stolperstellen und verdeckte Abgründe; Stimmengewirr, Straßenlärm, Papierrascheln, Musikrudimente, Geschrei und animalische Geräusche. Die Poeme kleben oder hängen als Bilder auf Wänden oder sind selbst Teile der Architektur, oder deren Konstruktionselemente, manche thronen auf Säulenstümpfen, andere liegen auf dem Boden herum. – „Alles in allem eine Gesellschaftsmetapher in Gestalt eines kunstvollen Ruinengeländes“, hab ich mir irgendwann notiert. Und eines Tages wollte ich mir ein Bild machen von der Gesamthandlung, weil ich in der ganzen Zeit den, allmählich präziser werdenden, Eindruck hatte, daß ich es mit einem Stück aus einzelnen Stücken zu tun habe, was sich dann auch bestätigte, als ich mir zu den einzelnen Gedichten kurze Stichworte machte. Sowas kann man leichter überblicken, und in der Tat waren Zusammenhänge plötzlich evident.
Unterdessen habe ich natürlich noch mancherlei anderes gelesen, wenn ich nicht malte oder zeichnete. Und diese Lektüren haben ihre Mitbestimmungsrechte wahrgenommen, nicht nur bei der Bilder-Ausdenkerei, auch bei der Lesetätigkeit. Deswegen vermutlich habe ich den früher schon mal begonnenen Brief weggelegt; das war etwa in der Zeit der globalen Fußballerei. – Ihre Gedichte also gerieten mir unter den Blick einiger weltbewegender Themen; aber darüber unmittelbar wollte ich ja nun wirklich nicht schreiben. Inzwischen hat sich einiges gesetzt, wie man so sagt; und ich verstehe mühelos, daß Sie Ihre Poeme als „Gespenster-Geschichten“ annoncieren. In der Tat, wenn es der Menschen-Spezies nicht gelingt, die ungeheuren Kräfte, die durch die Wissenschaften und Techniken freigesetzt sind, dergestalt in den Griff zu kriegen, daß Weltgeschichte nicht länger nach den simplen Verfahrensweisen der Betriebswirtschaftslehre gemacht und betrieben werden kann, dann blüht es uns wahrscheinlich, daß wir uns dereinst in gesellschaftlichen Umständen wiederfinden, an denen gemessen die Epoche der mittelalterlichen Hexenjagden und Hungerpesten sich noch ausgesprochen kuschelig ausnehmen wird. Soviel schimmert durch die meisten Ihrer Poeme hindurch, ausgesprochen unmißverständlich. – Sehr viel indirekter, verhaltener, eher „ex negativo“, aber doch auch unüberhörbar kommt da die Frage: Soll das wirklich unaufhaltbar sein? Gibt es keine Möglichkeiten, die kulturelle Evolution dahin zu beeinflussen, daß die Sache anders läuft, daß die wahrlich begründeten Befürchtungen sich am Ende als nützlich, nämlich erledigt erweisen?
Es kann sein, daß ich hier etwas übereifrig interpretiere. Aber ich erlaube mir, Gedichte, wie Kunstwerke überhaupt, auch als Gedankenspiegel zu benutzen. Gerade in ihrer Mehr-Eindeutigkeit geben sie genaue Auskunft darüber, wie unerläßlich es ist, unsere liebe Welt und die Entwicklungen in ihr als möglich, nicht aber als unentrinnbar-zwangsläufig zu sehen. (Selbst die Naturwissenschaften sind ja derweil auf diesem Trip.)
Also, eigentlich wollte ich die Sache nicht so total drehen; aber wenn man es versucht, sich so kurz wie möglich zu fassen, kommt manchmal eine Art von Gedankenverkürzung zustande, wie Holzhammer, - Verzeihung!
Andererseits, wenn ich jetzt anhöbe, über die einzelnen Gedichte zu schreiben, käme ich ins Uferlose, und da ist alles noch viel, viel länger. Mir ist diesmal die Architektur, ich meine hier die sprachliche und poetische, wichtiger, weil sie den Charakter eines geschlossenen Poems mit dreißig Gesängen hat. Die Gesänge scheinen zunächst sehr locker miteinander verbunden zu sein; vielleicht stehn sie nur so herum, dachte ich für’s erste. Daß es nicht so ist, macht die Poesie des ganzen aus, die besondere, die ich zu beschreiben versucht habe. Da waltet eine unauffällige, aber um so wirkungsvollere Didaktik, wie in einem gut gebauten Musikstück. Das soll einer mal machen!
Derweilen kenne ich die einzelnen Personen, Szenerien etc. längst persönlich; selbstverständlich habe ich Lieblingsgedichte, aber die wechseln, was für die Gedichte spricht. Zur Zeit habe ich es mit Seite 33 „Eine Straße verschwindet“. Aber auch mit „Und so ist es ja auch“ – und mit „Nobody knows but you“. Wir werden weitersehn; das Ding ist im Fließen. Lauter Gedicht-Individuen, mit denen man, wenn sie erst aufgetaut sind, in lohnende Gespräche kommt.
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