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Kritik

Stile und Standpunkte

Lyrik und Lyrikrezeption in Gegenstrophe

Der Gedichtalmanach „Gegenstrophe. Blätter zur Lyrik“ ist 2011 im dritten Jahr erschienen, ein solides Kompendium lyrischer Leseproben, dessen aufwändige Aufmachung – gut im Papier, gediegene Grafik, feste Buchdeckel – dem Unterstatement im Titel widerspricht. Wie schon in den Vorgängerbänden gliedert sich die Auswahl zeitgenössischer deutscher Lyrik, die zum Hannoveraner Lyrikfest erscheint, in die Abschnitte PREMIERE, PORTRÄT, ESSAY, DOSSIER und RECHERCHE.

Im ersten Teil werden Szene-Neulinge vorgestellt, diesmal die Debütantin („Alle Lichter“, Schöffling) Nadja Küchenmeister, eine 1981 geborene Ostberlinerin, und der Open-Mike-Sieger Levin Westermann, Jahrgang 1980, ein Frankfurter. Beide sind mit je fünf vom prosaischen Ton her gelassenen Gedichten vertreten, beide haben an Literaturinstituten studiert, beider Texte sind biedermeierlich bescheiden vom Sujet, moderat gelehrt und von der frischen Unbekümmertheit nordamerikanischer Gedankenlyriker. Küchenmeisters Texte erscheinen gesetzter, Westermanns unschlüssiger, worum es denn nun eigentlich gehen soll: Zustandsbeschreibung, Definition der Sinnsuche, Ortung von Errungenschaften oder nur Zurechtfinden, Anklängen anhängen im akustischen Flickenteppich aus Stimmen, Tonlagen, Sprachen? Interessant, ja. Also für eine Vorstellung genau recht: Diese Namen wird man verfolgen müssen, lesen, was sich entwickelt.

Nicht ganz so druckfrisch ist der Dritte in PREMIERE präsentierte Dichter, der 1960 in Barcelona geborene Àxel Sanjosé, ein Münchner. Er hat schon 2004 mit „Gelegentlich Krähen“ (Landpresse) debütiert. Seine Gedichte erscheinen ungleich autonomer und mutiger, wenn auch jeweils  aus Zusammenhängen heraus gerissen, die es dem Leser nicht leicht machen. Technisch sind sie solide und sicherer als die Verszeilen der Jüngeren, kein Wunder, als Nachdichter (aus dem Katalanischen) hat Sanjosé das Handwerk von der Pike auf gelernt.

Das erste Buch von Simone Kornappel, 1978 in Bonn geborene Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift randnummer, wird 2012 bei luxbooks erscheinen, sein Titelgedicht „Raumanzug“ ist neben zwei anderen, mehr montierten Texten, darunter ein im Kreis gesetzter, in PREMIERE vertreten. Kornappel gibt collagenartig Eindrücke vom Alltag in Labors und mit ausgestellten Präparaten, dabei erinnert sie sich an Gottfried Benn. Verbindliches und Gebundenes bieten ihre Gedichte nicht.

Im nächsten Abschnitt, PORTRÄT, charakterisieren zwei  Herausgeber des Bandes arrivierte Dichter von heute: Michael Braun präsentiert nach einer Einleitung zwei Gedichte von Michael Lentz, Martin Rector stellt Dirk von Petersdorff in drei Texten vor. Es folgen Marion Poschmann, von Cornelia Jentzsch vorgestellt, und Jan Wagner, wie Michael Krüger ihn sieht.

Die Lentz-Texte sind aus seinem Band mit 100 Liebesgedichten genommen, dem 2010 bei Hanser erschienen, zu Recht enthusiastisch begrüßten „Offene Unruh“ entnommen. Die von Braun gewählten Proben erweisen den Poeten (der in Berlin lebt und in Leipzig Lyrik lehrt) und Performer seiner Texte, – eine Serie der FAZ stellte 14 Hörbeispiele aus dem erwähnten Band ins Netz – als gesetzten Dichter, der weiß, was er will (skeptisch die Liebe untersuchen), woraus er sich bedient (etwa Gryphius’ Verzweiflung aus „Tränen des Vaterlandes“) und wie was wirkt (je nach Hingabe: des Lesers an das Gedicht wie des Liebhabers an die Geliebte).

Dirk von Petersdoff, von dem zuletzt das Best of seiner ersten vier Gedichtbände als „Nimm den langen Weg nach Haus“ bei Beck erschien, ist ein Dichter, der den Ruch der Gelehrsamkeit – er ist brotberuflich Literaturwissenschaftler – wettzumachen versucht, indem er hausgemachtem Familienalltag Gedichte abgewinnt; ein Kompromiss, der oft kompromittiert, ins Banale rutscht. Wer Brinkmann und Gernhardt liebt, der wird mit Petersdorff eine Freude haben. William Carlos Williams ist er keiner.

Als „fluiden, leicht melancholischen Zustand, beruhigendes Überlassen wie präzises Zugreifen“ charakterisiert Cornelia Jentzsch die Dichtung Marion Poschmanns, zumindest den Band „Geistersehen“ (Suhrkamp 2010), aus dem sie eine Handvoll Beispiele bringt. Das ist ein sehr persönlicher Eindruck, denn das Vorhaben Poschmanns hat der Verlag als Erprobung der poetischen Mittel angekündigt: der Dichter bzw. die Dichterin als Seher/in! (Folglich wäre Poschmann gelungen, woran Hofmannsthals Lord Chandos gescheitert ist...) Weiter unten heißt es dann auch bei Jentzsch, die Gedichte in „Geistersehen“ seien eine Mischung aus „wissenschaftlichem Röntgenblick und diffusem Ahnen vom großen Grundgeheimnis Natur“. – Einerlei, was es ist, das Poschmann gelingt, ihre Texte sind lesenwert, weil von einer wie auch immer vorgenommenen Thermung beflügelt, melodische, alliterative Töne, die nicht zu viel verraten, doch eine Weile mitschweben lassen und daran erinnern, was Dichtung einmal war, bevor sie irgend etwas zu sein hatte. Danke, Marion Poschmann!

Jan Wagner, von dem zuletzt 2010 im Berlin Verlag „Australien“ erschienen ist, wird von Michael Krüger recht allgemein vorgestellt. Er ist – zumindest in seinen Gedichten – so reiselustig wie Raoul Schrott, so wenig um althergebrachte Formen verlegen wie H. C. Artmann, so tüchtig in Enjambements (und ohne Berührungsängste mit dem unerwartet Gewöhnlichen) wie R. M. Rilke. Mein Favorit: Im Sonett „Giersch“ nähert sich Wagner dem Unkraut Geißfuß (Aegopodium podagraria) bzw. dessen volkstümlichem Namen mittels Anklängen und Assoziationen: nicht ganz so spielerisch wie Oskar Pastior, aber immerhin. Wer Eugen Roth liebt und Formenlehre rekapitulieren will, wird seine helle Freude haben. Gedichte wie „Gräber“ sind Erzählungen – etwa davon, wie sich ein gefallener Großvater in Erinnerung ruft – mit souverän verdichteter Stimmung. Wer darüber hinaus allgemeine Weisheiten sucht oder darauf brennt, Mittel und Wege des Gedichts auszureizen, wird bei Jan Wagner nicht fündig werden.

Für den Abschnitt ESSAY hat Bertram Reinecke elf in den letzten Jahren heraus gekommene deutsche Gedichtanthologien untersucht, mit dem Plan, eine Zustandsbeschreibung des heute typischen Gedichts zu verfassen. Das Ergebnis des zweifelhaften Unterfangens ist recht vage, einerseits, weil die Mittel (Konkordanzen), andererseits weil die Worte („Wirgedicht“) unzureichend sind.

Ganz dem diesjährigen Gewinner des Hannoveraner Hölty-Preises 2010 für ein lyrisches Gesamtwerk, Paulus Böhmer, geb. 1936, gewidmet, ist der Abschnitt DOSSIER:
Nach einer Darstellung der Auszeichnung folgt ein Auszug aus dem Hauptwerk Böhmers, dem in drei – von insgesamt 28 Büchlein und Gedichtbänden – fortgesetzten „Kaddisch“. Es folgt die von Jan Volker Röhnert gehaltene Laudatio auf den Dichter, der weitab von Trends und Grüppchen beharrlich und weitgehend unbemerkt von Literaturtrubel seine eingängigen Litaneien dichtet. Mir fällt nur Inger Christensens „Alfabet“ ein, das gewisse Ähnlichkeit zu Böhmers Werk hat. Röhnert zieht den Vergleich mit den Schiffsverzeichnis Homers, wo alle Pracht und Herrlichkeit der Zeit des Odysseus aufgezählt ist.

Böhmers bevorzugte epische Großform ist nicht nur eine Litanei für einen Toten, sondern vielmehr ein ausufernder Katalog des Lebenswerten, den Tod mit künstlerischen Lebensbezeugungen überhäufend.
Nach der Vita Böhmers gibt es eine ausführliche Bibliografie.

Ein besonderes Service bietet der letzte Teil von Gegenstrophe, RECHERCHE: Eine Liste aller im Jahr 2010 erschienener Veröffentlichungen von Gedichten: Anthologien und sämtliche Buchtitel einzelner Lyriker, erst deutschsprachige, dann fremde, deren Übersetzung erschienen ist.

Wer sich über Standpunkte und Stile der Dichtung des Jahres 2011 ein Bild machen will, ist bei „Gegenstrophe“ richtig. Es sind zwar nur ein Dutzend DichterInnen, die darin vorgestellt werden, doch das gründlich und von versierten Kritikern.

Michael Braun · Kathrin Dittner · Martin Rector (Hg.)
Gegenstrophe
Blätter zur Lyrik 3
Wehrhahn
2011 · 120 Seiten · 12,80 Euro
ISBN:
978-3-865252449

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