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Kritik

Alles muss beschämt werden

Hamburg

Ins Schweigen gehen. Ein Satz, so rätselvoll wie die meisten Menschen, die ihn benutzen. Ein laufender Widerspruch, das Schweigen anzukündigen. Warum nicht einfach losschweigen, still sein, Fresse halten? Vielleicht weil das Schweigen eine beredete Art ist, zu sagen: ich schäme mich nicht mehr (für was auch immer). Wer sich schämt, muss sich verteidigen, früher oder später reden. Das ganze Schamzeug muss also raus – und das heißt: vorbehaltlos. Alles muss beschämt werden, bevor man ins Schweigen gehen, die Abwesenheit aushalten kann. Erst Schamüberschüttung, dann Selbstauslöschung, gebongt. Der Lyrikerin Nancy Hünger ist mit ihrem Prosa-Debüt Halt dich fern eine Erzählung über die alltäglichen und poetischen, am Ende allesamt aussichtslosen, ja geradezu lächerlichen Versuche des „großen Weltbegreifens“ gelungen.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht eine Reisegruppe und das Land, durch das sie reist, vielleicht Rumänien, Siebenbürgen, aber wer weiß das schon so genau. Egal ist auch, wie groß die Gruppe ist. Es sind zu viele. Zu viel Geschwätzigkeit, Humorlosigkeit, Stromlinienförmigkeit. Verbale Bankrotterklärungen in Dauerschleife. „Überhaupt, diese plappernde Untugend, das beredete Menscheln, geht mir nicht ein, es geht mir nicht ein, warum die verschwiegenen Pausen, die wortlosen Klüfte so wenig zu Aushalten, so berückend sind.“ Die einzige Rettung ist alter ego Angela, deren Leben irgendwo zwischen Altruismus und Seelenzerrüttung gestrandet zu sein scheint. Ein „Beichtmütterchen“, das sich am Ende auch nur als eine von diesen „unfrisierten Gedanken“ herausstellen wird, eine Erfindung vielleicht, aber wer weiß das schon so genau. Halt dich fern – das sind 32 hochpoetische Reflexionen über das Rauschen im Kopf, das heillose Plappern, die „funkelnden akustischen Schnuppen, die kurz am Hirnhimmel glühen und allerlei Erkenntnis gaukeln“. Eine Erzählung, die unaufhörlich um ihren eigenen poetologischen Kern kreist und weiß, dass auch das nichts als eine „Denkprothese“ ist.

NancyWand
Quelle: Edition Azur

Und so macht sich die Ich-Erzählerin in einer dichten, elliptisch kreisenden Prosa freiwillig unfreiwillig zum Sprachrohr derer, mit denen sie auf diese Reise gegangen ist und auf dieser Reise begegnet. Alles muss beschämt werden – und alles wird beschämt. Mit den erbärmlichen Lebensgeschichten derer, die von der Geschichte vergessen wurden, dem notdürftigen Repertoire der Alteingesessenen. Auch mit billiger Dorfromantik, dem ewigen Loblied vom einfachen Leben auf dem Land und seiner Ursprünglichkeit („aber die leuchtenden Tomaten das nenne ich Geschmack“). Selbst die Suche nach dem Haus eines Dichters (man ahnt es, Margarete und ihr Haar) stellt sich als dubios beschämendes Vorhaben heraus. Die Gedenkplakette klebt am falschen Haus! Und so kommen selbst die Plaketten-Installateure zu ihrem großen Auftritt in diesem unendlich vollen Chaos Welt.

In all der Schamübergießung tauchen aber plötzlich Erinnerungen auf, „vielbeschworen, das Dorf meiner Kindheit, das in alle Dörfer mündet, und alle Dörfer münden in die Vorstellung eines Dorfes, das grausam ist“. Es sind Erinnerungen an eine Kindheit in einem Dorf in der Nähe von Weimar. Vom Buchenwald ist die Rede, vom „Russenwald“; dass der Anfang genommen werden müsse bei den Großeltern, weiter könne man nicht zurück: „Das steigt nun auf aus den Wäldern, den Nebeln, was vom Kind noch, was von mir noch übrig ist, plappert mir in den Schlaf: die Ilmauen, der Buchenwald, halt dich fern.“ All das erzählt von einer großen Melancholie, der Sehnsucht nach etwas Verlässlichem, und sei es der Geruch aus „Staub und Erde und Kartoffeln“. Einmal soll nicht zurückgerudert werden können in der Sprache. Deshalb die Poesie.

Die Bedingungslosigkeit, die Nancy Hünger ihrer Erzählerin abfordert, ist radikal und ohne Ausnahme. Denn der Weg ins Schweigen, in die „innere Klausur“, den „Kasten ohne Fenster“, gleicht einem gigantischen Spießrutenlauf – gedanklich wie körperlich. Es ist „eine Reise an das Ende aller Gewissheiten“. Immer in der Hoffnung, dass da ein Ort ist, an dem einer sitzt und auf einen wartet: „einer der dich lieben könnte, bis die Gefahr vorüber ist“. Aber die Gefahr ist bekanntlich nie vorüber. Und dass das Prosa-Debüt von Nancy Hünger dieser Bedrohung tief in den Rachen schaut, macht es zu einem vielleicht paradoxen, vielleicht aber auch zu dem einzig möglichen Annäherungsversuch an den „Irrlauf der Welt“.

Nancy Hünger
Halt dich fern
edition AZUR
2012 · 84 Seiten · 19,00 Euro
ISBN:
978-3-942375061

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