Die kreisende Bewegung auf der Wendeltreppe:
Im klassischen Sinn sind die PN-an-Lem-Texte von Niskate, die jüngst von der parasitenpresse herausgegeben wurden, keine Gedichte; sie sind Gedankenströme, die sich in einem rhythmisierten Radius um sich selbst bewegen, indem Wortverkettungen die Weiterentwicklung einer freien Rhythmik stützen.
Anders als bei Ulf Stolterfoth, dessen jüngst erschienenes experimentelles Langgedicht Neu-Jerusalem in einem großen Kreis angelegt ist, scheinen die Gedanken hier immer wieder unterbrochen, wodurch das nochmalige Reflektieren in immer tiefere Ebenen führt. Auch hier hat man es mit einer prophetischen Reise zu tun, aber in vertikalen Kreisen, als würde man eine Wendeltreppe steigen, aber anders als die berühmte Treppe von Ernst Bloch steigt man hier diese nicht hinauf, sondern hinab.
Isolation, die den Dialog mit dem eigenen Ich ermöglicht, dem Alter Ego Lem, der sicherlich, ein Hase ist, der jedoch nie antwortet, sodass sich die Texte dem inneren Monolog annähern, erscheint nicht neu, jedoch wird durch ebendiese rhythmische Sogwirkung der Leser in den Kaninchenbau der Sprache, des Exils, hineingeführt, in der er sich mit vertiefen kann. Lem erscheint als der Angesprochene, der den Textfluss wie ein Punkt oder eine Zäsur zum Halten bringt und zur Charakteristik des Textflusses entscheidend beiträgt.
Der Leser wird zum Voyeur, er hört, liest Monologe, die er nicht hören sollte, da es sich ausdrücklich um Privatnachrichten an Lem handelt. Es scheint, als wären hier Selbstgespräche mitgeschnitten und transkribiert worden, sodass die Form eines rhythmisierten Sprachflusses ihre Berechtigung erhält.
Meister Lampe, wie der Hase in Fabeln der Aufklärung heißt, verfügt über die Fähigkeit, als Lampenträger, als Lichtbringer, den Weg aus dem Bau zu leuchten, vielleicht. Jedoch ist der Hase immer auch als Fluchttier charakterisiert. Es handelt sich um moderne Exiltexte.
Unterstützt wird dieser Eindruck durch die wunderbar düsteren Zeichnungen von Marina Friedrich, die, ähnlich den Texten, das Thema des Verlorenseins des Hasen variiert. Die Zeichnungen orientieren sich genau am jeweiligen Inhalt des Textes, beziehungsweise dort vorkommender Sprachbilder, die in die Zeichnung übersetzt, beinahe transkribiert werden, sodass es sich im genauesten Sinne um Illustrationen der Texte handelt.
Die Kartografie der Stille, die Farblosigkeit und Starre der Situation einer äußeren Isolation und einer Involution wird von der Lebendigkeit der Sprache konterkariert, die mit sich selbst spielt, ein Würfelspiel in Schwarz-Weiß. Die Leichtigkeit dessen rührt vom Rhythmus des Sprechens selbst her, die trotz der veräußerten Melancholie überlebt.
Man liest die Texte topografisch auch nicht horizontal, von linker zu rechter Buchseite, sondern von oben nach unten. So zeigt schon der Textfluss nach unten, in die Tiefe. Auch existieren keine Seitenzahlen, wodurch es kein hintereinander, sondern ein untereinander gibt, das den Zyklus ordnet.
Die zwanzig Texte, die von I bis XX durchnummeriert sind und die immer an Lem adressiert werden, scheinen sich aus der Wohnung und dem Ausblick durch das Fenster nicht wegzubewegen, kreisen um diese eine Kulisse, die umso mehr mit Leben bzw. Sprache gefüllt wird, einem gespenstischen Leben, das genau dieses Zimmer zu einem ganzen Kosmos der Gedanken macht. Die Wände sind undicht, sodass das Wasser, der Regen, von außen überall eindringt, eine löchrige Membran, die den Austausch mit der Welt zu etwas Zermürbenden, Faulenden zu machen scheint.
An einigen Stellen wird immer wieder auf das »Problem mit dem Wasser« verwiesen, eine in runde Klammern gesetzte Inversion, eine beiläufige Erwähnung des Zustands des Obdachs am gefühlten Ende der Welt, die jenseits des Gartenzauns endet:
»hinter dem gartenzaun beginnt wüste, lem,
kann alles passieren zählt man die zufälle dazu
(das problem mit dem wasser) verfolge mich in folge
kristalle strukturen in tiefere schichten«
PN an Lem VII
Die unheimliche Tiefe, in die diese Monologe sprachlich hineinführen, wird durch Wortverkettungen erzeugt, wodurch sich die Sprache beinahe von selbst weiterschreibt, tieferschreibt. Diese Monologe sind vor allem auch dem Ansprechen des Gegenübers, dieser Leerstelle geschuldet, wenn es beispielsweise in PN an Lem VI heißt:
»allein gehe ich nur noch zu zweit angeln, lem, zu viele augen siehst du zu
wenn wir obsolet werden und schließt dabei deine für stimmen für kräfte
wie die hier sind kräfte wie die hier notwendig
wenn wir uns begegneten
wüchsen uns fühler tief in den schlaf«
Zudem werden an vielen Stellen die Texte sprachreflexiv durchleuchtet, was eine weitere Ebene schafft. Auch die gesamten Monologe werden als solche, noch immer im Modus des Ansprechens, reflektiert. Der Spiegel der Selbstbetrachtung wird dadurch freigelegt, bloßgelegt und nochmals gespiegelt, gebrochen. Dies geschieht interessanterweise in der topografischen Mitte des Bandes und der Texte, in PN an Lem XI. An dieser Stelle wird deutlich an Lem appelliert, nicht zu antworten, sondern das lyrische Ich anzusprechen:
»[...]
sprich mich an, lem, man könnte ja meinen das sei ein monolog heiteren scheiterns
selbstreferenzielle einszelle monodiskurskomponente die wir betonen beglotzen uns uns begötzen
du
du
sollst keine andern neben mir, lem, und spiel nicht immer an dirliegt es
wenn ich spreche am denken habe ich weißt du was wie
gleichzeitigkeit ist die hand auf dem stein beim hinaufrollen
und neben uns rollt derselbe dieselben künstlichen berge herunter«
Offenbar wird hier auch die Situation des Sphinxblicks, die sich selbst in die Augen blickt hingedeutet. Sie ist die einzige, die ihren eigenen Blick überlebt. Dennoch befindet man sich in einer versteinerten Situation der Gefangenschaft, wenn man in der Starre der Selbstbetrachtung verharrt.
Die Blasphemie, die Versündigung am Leben selbst und das Bild des Sisyphos lassen hier an existentialistische Philosophie, an Camus, denken und in dieser Form wagen auch die Poeme experimenteller Art diesen unverhohlenen Blick nicht über sondern in das Absurde hinein, in die Isolation, ins Scheiterns und die Monotonie. Hier wird das Wagnis eingegangen, dieser angsteinflößenden Starre nicht auszuweichen, sondern tief in diesen Abgrund hineinzublicken, aus der die Sprache jedoch einen Ausweg zeigt; das gegen Ende angezeigte Licht im Tunnel, der umgekehrten Hoffnung: Im Sinne Ernst Blochs, wenn man die Wendeltreppe nicht hinauf, sondern hinabsteigt, ist Sprache im Exil Heimat und zeigt wieder auf die Sprache selbst, die vom Autor nicht zu trennen ist, denn es ist seine Sprache, mit der er mitten durch dieses Absteigen geht, Haken schlägt und den Ausgang findet, sich ihn selbst schreibt, gräbt, was aber nicht ein Ende dieses Prozesses bedeutet, nur ein provisorisches Ende, ein Ende in Klammern:
»das rollen der köpfe bleibt ein geheimnis zum anknüpfen, lem,
schenk ich es dir nimmst du es mit an die ränder der nächte
besiegeln die nähte auch wenn ich nicht sicher sehen wir uns wieder bleibt nähe
scheinbar am ufer
durchdringst du schon hohe exponentielle potenzen aus denen echos entstehender echos
als anklänge abgänge nachhalle auftauchen wo lichtmeere wachsen beginnst du von vorne
von oben durch spiegel wirst du zu
(nach unten) sich windenden schleifen die sinken und schlürfen und winken und wirken
kaum hörbares glucksen zum (schluss)«
PN an Lem XX
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