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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Jahr der Konfusion

Nils Minkmar begleitet Peer Steinbrück im Wahlkampf
Hamburg

Politik und Literatur gehen in Deutschland schon lange nicht mehr zusammen. Romane über die Politik entstammen meist der Feder von Polit-Journalisten oder sogenannten Beratern. Das Ergebnis ist in der Regel die Verschriftlichung der Berliner Gerüchteküche: Intrigen und Affären, Kungeleien mit Lobbyisten, Fremdsteuerung von Volksvertretern. In anderen Worten, all das, womit „Spiegel Online“ den gelangweilten Büromenschen tagtäglich im Zweistundenintervall traktiert.

Umso vielversprechender liest sich die Ankündigung des S. Fischer Verlags, „der renommierte Journalist und Publizist Nils Minkmar“ habe fast ein Jahr lang den SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück im Wahlkampf begleitet. Seine Beobachtungen und Erfahrungen, nunmehr als Buch veröffentlicht, lieferten „eine unvergleichliche Innenansicht des politischen Systems in Deutschland“ (Klappentext).

Man denkt sogleich an Bücher wie das von Laurent Binet, der den französischen Präsidentschaftskandidaten François Hollande im Wahlkampf gegen Nicolas Sarkozy beobachtete (Rien ne se passe comme prévu, Grasset 2012). Und natürlich an „Frühmorgens, abends oder nachts“ von Yasmina Reza (Hanser Verlag 2008), die sich 2007 über neun Monate an die Fersen von Sarkozy geheftet hat, bis dieser die Stichwahlen gegen Ségolène Royal für sich entscheiden konnte („Selbst wenn Sie mich verreißen, wird es zu meinem Ruhm sein“, soll Sarkozy im Vorfeld zu dem Projekt gesagt haben). Ironisch, kritisch, manchmal ungläubig, bisweilen mitfühlend, aber immer mit der notwendigen Distanz berichtete Reza über den Typus des herausragenden Politikers, aber auch über den Menschen Sarkozy. Ihr Buch ist ein Mosaik der Eindrücke und Beobachtungen; kaum ein Gedanke ist länger als eine Viertelseite. Doch gerade damit kommt sie Sarkozy vielleicht am nächsten, der rastlos von Termin zu Termin hastet, fortlaufend neue Ideen ausspuckt, damit Apparate in Bewegung setzt – und wenige Minuten später schon wieder ganz woanders ist, sowohl örtlich wie auch gedanklich. 

Nils Minkmar hat Rezas Buch 2008 in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ besprochen. Leider hat er nicht die richtigen Lehren für sein eigenes Projekt daraus gezogen. Verglichen mit Reza kommt sein Buch über den SPD-Kanzlerkandidaten recht konventionell daher, und geht über weite Strecken am eigentlichen Thema vorbei.  

Minkmar hat Steinbrück zu zahlreichen Terminen begleitet. Er war bei Gewerkschaftstreffen und klassischen Wahlveranstaltungen, hat an Auslandsreisen teilgenommen, saß bei Hintergrundrunden mit am Tisch, studierte das Innenleben der Parteizentrale aus nächster Nähe – und beschreibt am Ende doch nur die Themen, über die auch die Presse berichtete. Eine Kostprobe: „Wer der SPD nahe steht, muss noch lange kein Steinbrückanhänger sein, es gibt Steinmeierfans und Gabrielfreunde, die Steinbrücks Kandidatur skeptisch sehen.“ Diese parteipolitische Binsenweisheit, von der jeder Zeitungsleser und Tagesschauseher schon mal gehört haben dürfte, resultiert in Überlegungen darüber, ob Programm und Kandidat der SPD womöglich keine ausreichende Schnittmenge gebildet haben („Es muss zwar irgendwo im Lande ein Steinbrückmilieu geben […] aber es ist scheues Wild, man hört und sieht sie nicht.“).

Es folgt eine Aufzählung der hinlänglich bekannten Steinbrück-Patzer: die hochbezahlten Vorträge, „Peerblog“, Kanzlergehalt, der Clown-Vergleich mit Silvio Berlusconi und Beppe Grillo, der bereits anderweitig genutzte Wahlkampfslogan („Das WIR entscheidet“) und zu guter Letzt der Stinkefinger auf dem Cover des Süddeutschen-Magazins. All diese in den Medien bereits in epischer Breite dargelegten Fettnäpfchen reiht Minkmar noch einmal auf, liefert dabei aber keine neuen Hintergründe, sondern lediglich seine Sicht der Dinge, die sich kaum von den bereits bekannten Interpretationen unterscheidet. Wie groß Minkmars Ferne zu den Realitäten des politischen Betriebs tatsächlich ist, kann man an seiner Verwunderung darüber erkennen, dass die Vortragshonorare Steinbrücks nicht als Ausweis einer „wünschenswerte[n] Unabhängigkeit [des Kandidaten] von öffentlichen Bezügen“ gesehen wurden, sondern als „ein Beweis seiner Gier“. Willkommen in Deutschland, möchte man ihm zurufen. Es gab im Deutschen Bundestag vermutlich keine Fraktion, inklusive, davon darf man getrost ausgehen, der eigenen „Parteifreunde“, die nicht bereits lange vor Steinbrücks Kandidatur ein ausführliches Dossier über dessen lukrative Nebentätigkeiten sowie die daraus resultierenden Fehlzeiten im Parlament in der Schublade hatte.

Anders als Reza, deren ungläubiges Staunen über den hyperaktiven Sarkozy mehr als einmal durchschimmert, macht Minkmar kein Geheimnis daraus, dass er sowohl die SPD wie auch Steinbrück als Mensch und Politiker mag. Daran ist nichts verwerflich. Gleichwohl nimmt es seinem Blick die notwendige Schärfe. Ein Beispiel: Mitten im Wahlkampf gab der SPD-Vorsitzende Gabriel der ZEIT ein sehr persönliches Interview, in dem er (erstmalig) über seine schwierige Kindheit und die Nazi-Vergangenheit des Vaters spricht. Das Interview erschien zu einem Zeitpunkt, als sich die Kandidatur Steinbrücks in einer tiefen Krise befindet und in der SPD mehr oder weniger offen über seine Ablösung diskutiert wird. Gabriel wollte für den Fall vorsorgen, dass er kurzfristig als Kandidat einspringen musste. Darüber jedoch verliert Minkmar kein Wort. Stattdessen nimmt er das Interview zum Anlass, ein ebenso freundliches wie harmloses Porträt Gabriels einzuflechten, dessen Bürgernähe er bei einem Besuch in Goslar bewundern durfte („Eher zufällig ergeben sich Begegnungen mit Menschen, die ihn respektvoll und voller aufrichtiger Freude begrüßen und sich dann als gestandene Handwerksmeister und als Unionsmitglieder entpuppen. Der Höhepunkt [der] Führung durch Goslar ist die Kaiserpfalz, in der Gabriel auch geheiratet hat.“).

Das größte Problem des Buches ist aber nicht seine offenkundige Parteilichkeit, sondern der Umstand, dass sich lediglich die Hälfte der gut 200 Seiten mit dem versprochenen Thema, dem Wahlkampf sowie dem dazugehörigen Kandidaten, beschäftigen. Die andere Hälfte nutzt Minkmar für grundsätzliche Reflexionen über den Zustand der SPD, Deutschlands und Europas. Kostproben: „Europa ist kein verarmender Erdteil, sondern, wenn man das Pro-Kopf-Vermögen betrachtet, einer der reichsten der Welt. Bloß steht dieses Vermögen zur Bewältigung gemeinsamer Aufgaben nicht zur Verfügung.“ Das mag richtig sein, liefert aber a) keine neuen Einsichten in die Wahlkampf-Odyssee des Peer Steinbrück und ist b) ein bereits zigfach anderswo bemühter Allgemeinplatz. An anderer Stelle erfährt man, dass die „europäischen Spielregeln […] zu Ungunsten der Lohn- und Gehaltsempfänger manipuliert worden [sind].“ Auch das mag irgendwie der Fall sein. Zur versprochenen „Innenansicht des politischen Systems in Deutschland“ trägt aber auch das nicht bei. Verwirrend ist zudem, dass Minkmar Steinbrück als Politiker porträtiert, der „die Exzesse sowohl der Märkte wie der Merkel’schen Austeritätspolitik“ zwangsläufig bändigen werde. War da nicht etwas? Richtig, zwischen 2005 und 2009 gab es in der Großen Koalition bereits einen Finanzminister Steinbrück, der dazu durchaus die eine oder die andere Gelegenheit gehabt hätte. Auch dazu findet sich bei Minkmar kein Wort.

Das zweitschlechteste Abschneiden der SPD bei einer Bundestagswahl deutet Minkmar letztlich psychologisch: „In der Krise“, so schreibt er gegen Ende des Buches, „wächst sich der ohnehin schon starke deutsche Wunsch nach Gemeinschaftlichkeit und konsensualer Politik zu einer regelrechten Harmoniesucht aus, die von Merkel perfekt befriedigt wurde.“ Doch macht er es sich damit, wie so oft in diesem rundum harmonischen Buch über den SPD-Wahlkampf, eine Spur zu einfach.  

Nils Minkmar
Der Zirkus
Ein Jahr im Innersten der Politik
S. Fischer
2013 · 19,99 Euro
ISBN:
978-3-10-048839-8

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