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Kritik

Der Fluch der Schokolade – Nino Haratischwili hat einen großen Roman geschrieben, bei dem nur ganz selten weniger mehr gewesen wäre

Die Bühne für Nino Haratischwilis Roman ist das 20. Jahrhundert. Eine Familiengeschichte in sieben Generationen, angesiedelt unter anderem in Tbilisi, Moskau, Berlin und London.
Hamburg

Alles beginnt in der Zeit, als Georgien noch Teil des russischen Kaiserreiches war. Die kurze Phase der Unabhängigkeit in Folge der Oktoberrevolution war bereits nach wenigen Jahren beendet; 1921 wurde das Land von der roten Armee besetzt und wenig später dem Sowjetimperium eingegliedert. Dort verblieb es bis zum Ende des Kalten Krieges und der georgischen Unabhängigkeit 1991. Dazwischen (und in Teilen leider auch danach) liegen Jahrzehnte voller Gewalt und Hass, Unterdrückung und Bespitzelung sowie gezielter Vertreibung und Vernichtung. 

Das ist der historische Rahmen, der das „Das achte Leben“ nicht nur umgibt, sondern ganz entscheidend prägt. Immer wieder erinnert Nino Haratischwili mit kurzen (und bisweilen auch längeren) Exkursen an die geschichtlichen Zusammenhänge. Stalin taucht ebenso auf wie Chruschtschow und Lenin. Lawrenti Beria, ab 1938 sowjetischer Geheimdienstchef und neben Stalin einer der Hauptprotagonisten der Ära das „Großen Terrors“, bekommt sogar eine aktive Rolle zugewiesen – als Liebhaber (oder treffender gesagt: Vergewaltiger) der attraktiven Christine, deren Mann Ramas, als er davon erfährt, keinen anderen Ausweg sieht, als Christine das schöne Gesicht mit Säure zu verätzten und sich selbst eine Kugel in den Kopf zu jagen. Und über allem schwebt als ständiger Begleiter der Krieg, die schreckliche Konstante des 20. Jahrhunderts.  

Dem Krieg entgegen stellt Haratischwili die Schokolade. Ein Geheimrezept des Ururgroßvaters der Erzählerin Niza. Dieser war um die Jahrhundertwende ein genialer Konditor und hat die Welt mit der süßen, zähen Flüssigkeit beglückt. Das Geschäft gibt es schon lange nicht mehr, die Rezeptur aber ist geblieben. Die Zutaten werden von Generation zu Generation unter dem Siegel der Verschwiegenheit weitergereicht. Die Zubereitung des edlen Gebräus ist allerdings nur in Ausnahmefällen zulässig. Doch zeigt sich rasch, dass es daran in der Familiengeschichte nicht mangelt.

In den Wirren des Bürgerkrieges 1918 kommt der Trunk erstmalig zum Einsatz. (Ana)Stasia hatte das Rezept zuvor von ihrem Vater vererbt bekommen. Allerdings wird die Wirkung umgehend ins Gegenteil verkehrt, als sich Thekla, eine entfernte Verwandte, bei der Stasia in Petrograd Unterschlupf gefunden hatte, daraus einen Giftcocktail mischt. Und auch später bringt das Rezept kein Glück, so dass in der Familie schon bald vom „Fluch der Schokolade“ die Rede ist.

Stasias Sohn Kostja, ein aufstrebender Funktionär im Sowjetstaat, beginnt ausgerechnet eine Affäre mit der Frau, die seiner Schwester Kitty das ungeborene Kind – der Vater galt als ein Verräter der sozialistischen Sache – aus dem Leib hatte schneiden lassen. Als Kitty und ihre Freundin Marian, die als Krankenschwester gezwungen worden war, das Abtreibungsmesser zu führen, davon erfahren, und so über den Wohnort der Berufssadistin Kenntnis erlangen, begehen sie kurzentschlossen einen Mord. Marian bezahlt dafür mit ihrem Leben; Kitty wird mit Hilfe ihres Bruders und eines befreundete Botschafters über Prag nach London gebracht, wo sie als erfolgreiche Sängerin debütiert und sich in die österreichische Jüdin Fred verliebt, deren eigene Familiengeschichte im Dritten Reich nicht minder tragisch verlief als die von Kitty. 

Kostjas Tochter Elene wiederum – nicht nur die Mutter der Erzählerin, sondern auch von deren Halbschwester Daria, die wiederum die Mutter von Brilka ist, der Adressatin der Geschichte – wird im Moskauer Edelinternat nach den Grundsätzen der Sowjetnomenklatura erzogen. Sie hängt an ihrem Vater, zu ihrer Mutter Nana, die Kostja vor allem der familiären Ordnung halber geheiratet hatte, ist das Verhältnis distanziert. Gleichzeitig hängen beide am Rockzipfel der Politik, die für den Bestand der Sowjetunion jedoch bekanntlich nichts Gutes im Schilde führte.

Während Daria sich aus Verzweiflung vom Balkon wirft, verlässt Niza ihre auch in der Postsowjetzeit von Unruhen zerrüttete Heimat und geht in den Westen. Wie einst Kitty nimmt auch sie ihre Geschichte mit, und immer wenn sie die Augen schließt, überkommt sie die Erinnerung. Das titelgebende „achte Leben“, das noch unausgebreitet vor Brilka liegt, grundiert auf der Erzählung der sieben vorangegangenen. Es ist als ein Neuanfang gedacht, um den Schrecken und das Unglück der vorangegangenen Generationen hinter sich zu lassen. Konsequenterweise ist das achte, mit „Brilka“ überschriebene Kapitel lediglich eine leere Seite.  

Nino Haratischwili hat eine eindrucksvolle, hochkomplexe Familiengeschichte vorgelegt, eine tour d’horizon im Umgang mit der Erinnerung an die sozialistische Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Trotz der mannigfaltigen erzählerischen Verästelungen geht ihr der rote Faden dabei nicht verloren, sondern führt weitgehend nahtlos vom Georgien der russischen Kaiserzeit bis ins Berlin der Gegenwart. Die 1983 geborene Autorin wollte einen großen Roman schreiben, und das ist ihr gelungen. Hin und wieder allerdings wäre weniger mehr gewesen. Nicht etwa bei den zeithistorischen Exkursen, die höchst informativ und mit viel handwerklichen Geschickt in die Erzählung eingeflochten sind; sondern bei der bisweilen allzu intensiven Erläuterung von Hintergründen, die sich dem Leser im Grunde von selbst erschließen (sollten). Ein Beispiel: Als Kitty von der Beziehung ihres Bruders mit der mörderischen Geheimdienstoffizierin erfährt, denkt sie für einen Moment daran, den betrogenen Ehemann über das außereheliche Treiben seiner Frau zu informieren – ein Gedanke, den sie aus verständlichen Gründen sofort wieder fallen lässt. Doch statt es dabei zu belassen, wird der Leser eingehend über die Gründe der Nichteinbeziehung des Ehemannes informiert. Die Kurzversion lautet: Wer mit einer kindermordenden Frau verheiratet ist, ist vermutlich selbst kein allzu angenehmer Zeitgenosse. Das leuchtet freilich ein – erschließt sich jedoch auch von selbst. Bisweilen tendiert Haratischwili dazu, ihre Leser ein wenig zu viel und zu lange an die Hand nehmen zu wollen. (Ein anderes Beispiel ist der Verweis auf das amerikanische Gefangenenlager Guantánamo, wo eigentlich von der Kubakrise die Rede ist).

Das jedoch ändert nichts daran, dass Haratischwili mit „Das achte Leben (Für Brilka)“ einer der besseren deutschen Romane in diesem Jahr gelungen ist, der auch aus der Flut der jüngst erschienenen Familienerzählungen positiv herausragt. 

Nino Haratischwili
Das achte Leben
(Für Brilka)
Frankfurter Verlagsanstalt
2014 · 1280 Seiten · 34,00 Euro
ISBN:
978-3-627-00208-4

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