Verliebter Idiot und kluger Revolutionär
Anton Stöver ist Gramsci-Forscher und wie viele seiner Kollegen im akademischen Mittelbau gestrandet. Er glaubt, dass Göttingen zu klein und unbedeutend für ihn sei, merkt aber nicht, dass es sich in Wahrheit genau umgekehrt verhält. Denn so richtig Notiz von ihm nimmt eigentlich keiner, abgesehen vielleicht von seinen häufig wechselnden Geliebten. Zumindest dafür ist eine Uni-Stadt wie Göttingen dann doch geeignet, der Nachschub an jungen Gefährtinnen – und sei es aus den eigenen Seminarveranstaltungen – ist gewährleistet. Nach außen hofft Stöver noch immer auf eine Professur, doch daran glaubt im Grunde niemand mehr, nicht einmal seine eigene Mutter, mit der ihn eine heftige Abneigung verbindet. Stöver führt das Leben eines öffentlich alimentierten Gelehrtendarstellers, das allenfalls unter Studenten in der ganz frühen Studienphase als „cool“ gelten mag. In den Augen seiner Ehefrau sowie der meisten Betrachter ist er hingegen eine traurige Gestalt, die frühzeitig an den eigenen, viel zu hochfliegenden Ambitionen gescheitert ist.
Stöver ist damit der platte Gegenpol zur eigentlichen Hauptfigur im vierten Roman von Nora Bossong, dem italienischen Philosophen und Kommunisten Antonio Gramsci. In abwechselnden kurzen Kapiteln werden die beiden Erzählstränge miteinander verwoben. Als gemeinsamer Ort der Handlung fungiert vor allem Rom, wohin sich Stöver zu Recherchezwecken aufmacht, um ein angeblich verschollenes Notizbuch von Gramsci ausfindig zu machen. Doch der Versuch scheitert ebenso wie Stövers Ehe und sein Bemühen, die schöne Tatjana zu erobern, die er im Archiv des Instituto Gramsci kennenlernt.
Der beeindruckendere Teil des Buches ist Gramsci gewidmet; genauer gesagt, dessen Lebensjahren zwischen 1922 und der Haftentlassung 1935, knapp zwei Jahre vor seinem Tod mit gerade einmal 46 Jahren. Dazwischen liegen nicht nur unzählige theoretische Schriften, sondern auch die Machtübernahme der Faschisten in Italien und die legendären 3.000 Seiten der „Gefängnishefte“, die Gramscis Schwägerin Tanja Schucht häppchenweise aus der Gefängniszelle schmuggelte und die den Ruf des Philosophen als einem der wichtigsten Vordenker der europäischen Linken begründeten.
Doch geht es darum in Nora Bossongs Buch nur am Rande. Im Zentrum steht stattdessen eine eher unbekannte Seite des politischen Theoretikers der „kulturellen Hegemonie“, nämlich seine Leidenschaft und Liebe für Julia Schucht, die er als 31-Jähriger 1922 bei einem Sanatoriumsaufenthalt in Moskau kennenlernte (nachdem sich dort zunächst eine Beziehung mit deren älterer Schwester Eugenia angebahnt hatte). Die beiden heiraten und gründen eine Familie. Fortan stellt sich für Gramsci die Frage, ob das zusammengehen kann - einerseits Ehemann und Vater, andererseits Revolutionär und wichtigster Protagonist der sozialistischen Achse zwischen Moskau und Rom im Kampf gegen den aufkommenden Faschismus in Italien und Europa. Gramscis Verhaftung 1926 – er war damals Abgeordneter des italienischen Parlaments – setzte dem vermeintlichen Zwiespalt ein erzwungenes Ende. Dem kurzen Glück des Verliebtseins folgte die lange Phase des Leidens, die Gramsci nur durch die akribische Arbeit am Theoriewerk zu überstehen vermochte – und in der vergeblichen Hoffnung, Julia und die beiden Söhne, von denen der jüngere erst während seiner Haftzeit geboren wurde, noch einmal wiederzusehen.
Nora Bossong ist eine außergewöhnlich begabte Autorin, die mit „36,9°“ – die Normaltemperatur eines Menschen – ein kluges Buch geschrieben hat. In sachlich-kühler Sprache wagt sie sich an ein anspruchsvolles Thema heran und hebt sich dadurch wohltuend vom Mainstream einer deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ab, in der der seichte Familien- und Generationenroman, durch unzählige Auszeichnungen in den vergangenen Jahren befördert, nicht totzukriegen ist. Mit ihrem neuen Roman hat Nora Bossong einmal mehr gezeigt, dass sie zu den ganz wenigen Schriftstellern gehört, von denen wir hierzulande eine ebenso intelligente wie anspruchsvolle politische Literatur erwarten können.
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