Ein Hungerkünstler in Berlin
Wie Leopold Bloom an einem Tag des Jahres 1904 durch Dublin, so irrt der namenlose Protagonist durch das nächtliche Berlin. Er ist auf der Suche nach etwas zu essen, aber er findet die Speise nicht, die ihm schmecken würde. Das hängt auch mit seiner zunehmenden Heiserkeit zusammen, einem Merkmal seines physischen Verfalls. Bis zum nächsten Tag, Sonnabendmittag, will ihm sein HNO-Arzt Doktor Kofler telefonisch das Ergebnis der letzten Untersuchungen mitteilen, einen Befund, den er längst spürt: Kehlkopfkrebs, eine Erbanlage. Innere Unruhe vor der Gewissheit treibt seinen schwachen Körper an und lässt seine Gedanken unaufhaltsam kreisen um seine Existenz. Wie die Helden Kafkas lebt er in einer Mischung aus Beziehungslosigkeit und zwanghaften Projektionen. Da geht es vor allem um die hierarchisch strukturierten Beziehungen in seinem Schreibbüro, den Chef Kranzler, der üblen Geruch verbreitet, dessen Sekretärin Frau Krämer, die der Protagonist „mitbenutzen“ darf, und die aufreizend wirkende Angestellte Fräulein Semper, deren Anblick bei dem Protagonisten unweigerlich zu sexuellen Entladungen in diversen Schmuddelecken führt. Als er am Morgen völlig entkräftet wieder zu Hause ist, klingelt endlich das Telefon. Es ist aber nicht der Arzt, sondern Fräulein Semper, mit der Nachricht, Kranzler habe sich in der Nacht aus dem Bürofenster gestürzt und liege tot vor der Wohnung des Hausmeisters Kübler, in eben der Nacht, in welcher der Protagonist aus erotischen Gründen ebenfalls im Büro war.
Spätestens an dieser Stelle verfließen die Konturen, und der Verdacht kommt auf, es handle sich bei den Akteuren um eine einzige Figur, den Erzähler: „Blut ist im Schuh“, denkt er bei der Heimkehr und will es aus dem Fenster schütten, auf den Bürgersteig, wo sich „Blutpfützen“ bilden, wie sie sich bei Kranzlers Fenstersturz gebildet haben könnten. Dr. Koflers Sprechstundenhilfe, die „Wolfsrachenfrau“, hat das Verhältnis zu ihrem Chef, das sich der Protagonist zu Fräulein Semper wünscht, und so weiter. Kranzler – Kofler – Krämer – Kübler, der Protagonist fantasiert sich als K. in die Rollen seiner Existenz. Der Gleichklang von Ich, englisch I, und Auge, englisch eye, bestätigt: Es ist das eine Ich, das alles wahrnimmt und verknüpft, der (Hunger-) Künstler, der sich am Schluss selbst vernichtet.
Die Verbindung von innerem Monolog mit einem Er-Erzähler erinnert an Bernhard („denke ich, dachte er“) und hat zur Folge, dass außer den Orts- und Straßennamen kaum eine Gewissheit bleibt. Thomas Bernhards monomanische Hassmonologe haben als Bezugspunkt eine eindeutige nicht-fiktive Wirklichkeit, Österreich. Die Referenz von Schlinkerts Text dagegen sind vor allem andere Texte. Zwar wird zum Beispiel auch eine Kritik am Ruhrgebiet erkennbar, der Heimat des Protagonisten. Das Ruhrgebiet hasst er als eine Ansammlung „sozialdemokratisch verbildeter Kleinbürger“ mit geistzerstörender Wirkung, und er plant, sein Elternhaus dort zu verkaufen, in das er bisher jedes Wochenende gefahren ist. Dazu ist es am Ende zu spät, der Leser wird mit augenzwinkernder Selbstironie auf das höchst mittelmäßige Niveau des Protagonisten hingewiesen. Die Möglichkeiten zur Kombination und Assoziation im Text sind unerschöpflich, und es macht Spaß, sie zu verfolgen. bei alledem hungert man indes ein wenig - nach dem Fleisch der Wirklichkeit.
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