Ortswechsel
Prägende Begegnungen mit Oleg Jurjews Texten waren für mich bislang solche mit kleinen, schön gestalteten schmalen Bändchen. Klar gibt es die im Suhrkamp erschienenen Romane, aber zuweilen ziehe ich die kleinen Formen vor. Dieser Vorzug entspringt keiner Wertung, sondern meinem Leseverhalten.
Als ich 1997 nach Philosophiestudium und ein paar Jahren Arbeit als Lehrer für verurteilte jugendliche Drogendealer die Stadt Frankfurt in Richtung Leipzig verließ, schenkte mir eine Nachbarin, die gerade in der Husschen Verlagsbuchhandlung zur Buchhändlerin ausgebildet worden war, zum Abschied Jurjews Leningrader Geschichten. Das Büchlein war in der Edition Solitude herausgegeben worden, schmal, blau und instruktiv. Auf dem Vorsatz hatte die Nachbarin mit Bleistift „Tschüss Jan“ geschrieben. Keine Unterschrift. Und ich habe mittlerweile auch fast vergessen, wie die sie mit Vornamen hieß. Den Nachnamen habe ich mir allerdings gemerkt, weil sie sagte, dass er sich von Vasall ableiten würde, was ich ihr damals aber nicht geglaubt hatte.
Meine Kisten waren im Umzugswagen verpackt, weil ich an einer mittleren Umzugsdepression litt, wurde das Fahrzeug von einem Freund Richtung Osten gesteuert, und ich hatte Zeit, einen Blick in das Büchlein zu werfen, naja, ich habe es auf der Fahrt durchgelesen, weil es mich fesselte und ja auch nicht allzu dick war.
Außerdem schien es all das zu bündeln, was ich an der russischen Literatur mochte. Eine gewisse Mystik wird vorgestellt, aber eine, die im Alltag vorhanden ist, eine Mystik im Teeglas sozusagen, und ein spezifischer Humor, den ich von den literarischen Vereinigungen der Serapionsbrüdern und den Oberijuten her kannte. Außerdem kam im Buch das Wort Brautwerber vor, ein Wort das mir bislang im Grunde nur in der russischen bzw. sowjetischen Literatur und im Märchen begegnet war. Zu allem Überfluss hieß eine Geschichte auch noch „Stadtauswärtsgeschichte“ und begann mit folgenden Worten: „Fima Mordkin, der gestorben ist, war die ganze Zeit darauf versessen, von meiner rechten Hand geformt zu werden und wie ein jüdischer Jessenin die runzligen Knie eines Kieferleins zu umfassen ...“. Was will man mehr?
Allerdings erleichterte mir das Buch den Abschied von Frankfurt nicht gerade, denn aus irgendeinem Grund befürchtete ich in Leipzig auf derartige Satzanfänge verzichten zu müssen. Vor allem das Wort Kieferlein hatte es mir angetan.
Wie dem auch sei, jetzt erst, im Jahre 2012, also nach über zehn Jahren, kam es zur erneuten Begegnung mit Jurjews Sprachkunst, und wieder mit Verspätung, und wieder ist es ein kleines Bändchen, das mich begeistert. „Von Orten. Ein Poem“. Erschienen ist es 2010 im Frankfurter Gutleutverlag, in jener von Sascha Anderson betreuten Reihe "Black Paperhaus".
Natürlich suchte ich im Buch zunächst nach den Frankfurter Spuren, die naturgemäß reichhaltig vorhanden sind, denn Jurjew wohnt seit Anfang der Neunziger mit seiner Familie in dieser Stadt, die mir seit meinem Wegzug nie mehr richtig aus dem Kopf ging. (An dieser Stelle ein kleines Bekenntnis: Frankfurt ist eine wunderbare Stadt, von Rödelheim bis Sachsenhausen, von Höchst, übers Gutleutviertel bis ja, sogar bis zur Hanauer Landstraße.)
Auch die Platanen werden in Jurjews Text entsprechend gewürdigt, jene Baumart, der ich in Frankfurt, auch wenn ich sie aus Leipzig schon kannte, gewissermaßen zum ersten Mal bewusst begegnet bin.
„An der Zoomauer sind die Platanen noch nicht beschnitten worden.“ So hebt ein Text an, der mit „Frankfurt, Mitte Juni. Unter der Zoomauer. Zwei Uhr Nachts. Platanen, deren Monde und der schweißig-süße Geruch des Jasmins“ ist. Was will man mehr? Aber weil das Buch „Von Orten“ heißt, kommen neben Frankfurt natürlich noch andere Städte und Landstriche vor. Nicht zuletzt Leningrad, aber auch die schwäbische Provinz und Chicago. Allesamt mit heiterem Strich liebevoll gezeichnet, und an keiner Stelle verbergend, dass der, der zeichnet ein Russe ist. Bald wird bei Jung und Jung ein Band mit Jurjews Gedichten erscheinen. Darauf freue ich mich.
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