Glücklicherweise schön spröde
Schwere See, mein Herz von Olivia Vieweg Heidi hat’s nicht leicht. Sie wird gerade 13 und hat eine Freundin, die ihr die Bio-Hausaufgaben schreibt. In der Schule ist sie nämlich ein Null, wie sie selber sagt. Aber wenn sie sitzenbleiben würde, würden ihre Eltern ihr Hausarrest aufbrummen. Und sie ist in einer Mädchenclique, die total auf „RustCast“ steht, eine Boysgroup, und zusammen wollen sie sich in Hamburg eine teure Louis-Vuitton-Tasche kaufen, die sie dann abwechselnd eine Woche tragen wollen, damit sich die anderen Mädchencliquen vor Neid grün und blau ärgern.
Aber Heidi tut nur so. Diese Boysgroup kennt sie überhaupt nicht, die Tasche ist ihr eigentlich genauso egal wie die anderen Mädchen. Sie bastelt lieber Buddelschiffe (das sind, für die Landratten sei's gesagt, die kleinen Schiffsmodelle, die man in eine Flasche hineinbaut), geht mit dem Hund ihres Bruders raus, den sie "Seewolf" nennt, obwohl er "Benny" heißt. Und am liebsten steht sie in ihrer Heimatstadt Cuxhaven am Hafen und wartet darauf, dass einer der letzten deutschen Hochseekutter einläuft. Sie hat sich nämlich in den wortkargen, griesgrämigen und, wie sich herausstellt, verbitterten und vom Leben enttäuschten Kapitän verguckt.
Der ist auch zu ihr nicht nett. Einmal sagt er sogar: „Dem Mädel hat doch einer ins Hirn geschissen." Sie lässt sich aber nicht entmutigen und schafft es sogar, an Bord gehen zu dürfen. Erzählt so begeistert von der Schifffahrt, von der Natur, von den Gewalten, die einem dort begegnen, dass sie vor lauter Enthusiasmus sogar auf den Tisch steigt - ihren Fußabdruck sieht man dort noch lange. Und ein Matrose sagt trocken: "Ein bisschen bekloppt bist du schon, oder?" Und der Kapitän sagt zu ihr, nach einem Moment des Schweigens, und als Heidi schon wieder in sich zusammengefallen ist: "Du hast einen schönen Hund." Ein Matrose kommentiert das mit "Wow, wann hat unser Kapitän das letzte Mal das Wort 'schön' benutzt?"
Es ist eine abstruse Fastliebesgeschichte, die Olivia Vieweg in ihrer neuen graphic novel erzählt, die kleine Heidi, die für die Louis-Vuitton-Tasche Geld von ihren Eltern klaut, aber es dann doch in einen teuren Plüschhund investiert, den sie dem Kapitän schenkt. Und der Kapitän, der von seiner Frau Iris verlassen wurde, die beim Abschied sagt: "All die Jahre hast du mir immer leidgetan. Aber selbst dieses Gefühl ist fort. Du wirst eines Tages sterben, ohne jemals gelebt zu haben. Was ist das für eine traurige Geschichte?"
Vieweg erzählt sie ganz knapp, mit wenigen Worten und sparsamen flaschengrün-grau-blauen Farben, schwarz und weiß, die immer etwas Schmuddeliges haben, etwas Verregnetes, etwas Trauriges. Ihre panels sind oft Ausschnitte: Man sieht Iris' Hand, die ihre Zigarette ausdrückt und damit die Endgültigkeit besiegelt, man sieht auf der Seite in der Disco, in die die Mädchen einmal gehen, unten in der Ecke einen Ausschnitt von Heidi mit ihrem Hund, von dem fast nur noch die Ohren ins Bild ragen, man sieht Heidi, im Zug zusammengekauert. Andere Bilder zoomen heraus und zeigen eine große Perspektive, den leeren Schulhof, die stürmische See, den Hafen, aber meist auch nur, um die Einsamkeit und den Trübsinn zu demonstrieren.
Wie schnell könnte dieses glücklicherweise schön spröde Buch über das Erwachsenwerden einer Cuxhavener Göre, die in die normalen Mädchengruppen nicht reinpasst und am Schluss auch gar nicht mehr reinpassen will, in den Kitsch abgleiten. Aber Vieweg bleibt immer realistisch, zeigt, dass das Geld in der Familie knapp ist, wie ihr Diebstahl entdeckt und bestraft wird (dafür braucht sie nur 9 kleine Bilder), wie eine Gruppe mit Außenseitern umgeht und welcher Druck dort herrscht.
Das kann hart sein und ist es für Heidi auch, auch da kennt Vieweg keine Kompromisse. Denn nicht nur die See ist schwer. Das Ende der Geschichte mit dem Sturm auf See wird hier nicht verraten, schon einmal ist Heidi ins Wasser mehr gesprungen als gefallen. Aber das Leben ist nun einmal ernst, für die Kinder, aber auch für die Erwachsenen. Und dann sind es vielleicht doch die kleinen Gesten, die das Herz ein bisschen öffnen und das Leben lebenswert machen.
Fixpoetry 2015
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