Menschen essen Texte fressen.
Tarsila do Amaral, Abaporu 1928
„Tupi, or not tupi, that is the question“.
Dieses umgeformte Shakespeare-Zitat könnte als spielerisches Motto für die revolutionäre Literatur- und Kulturtheorie des brasilianischen Modernisten Oswald de Andrade stehen, dessen Manifest der Pau-Brasil-Dichtung und Anthropophages Manifest (1924; 1928) jetzt in einer neuen Übersetzung von Oliver Precht bei Turia und Kant vorliegen. Tupi-Indianer sein, oder nicht Tupi-Indianer sein, das ist hier die Frage. In seinen Manifesten formuliert Oswald die Forderung nach einer neuen brasilianischen Literatur, einer Literatur, die zwischen Eigenem (Tupi, Indigenem, „Peripherie“) und Fremdem (Shakespeare, Europäischem, „Zentrum“) verhandelt, und die dabei das Eigene (von außen aus als „Peripherie“ bezeichnete) zum neuen Zentrum macht. Das sich seiner selbst bewusst ist. Der neue brasilianische Künstler ist der selbstbewusste Menschenfresser; nur, dass er nicht Menschen frisst, sondern ganze Kulturen, Systeme kultureller Codes, Zitate. Er isst verschiedene Texte, Papiere, Traditionen aus der eigenen und aus fremden Kulturen, verdaut sie, und scheidet etwas Neues, Innovatives, Brasilianisches aus – schafft damit also etwas ganz Eigenes. Der kannibalische Künstler wird so zum kulturellen Übersetzer, wobei der Verdauungsprozess eine gewaltsame, hungrige, und verschlingende Dynamik bekommt. „Só a antropofagia nos une“, nur die Anthropophagie vereint uns“, heißt es zu Beginn des Anthropophagen Manifests. Ähnlich wie in futuristischen oder dadaistischen Manifesten, steht auch hier am Anfang das Kollektiv, das Wir, die neue Generation. Das Vereinende ist das neue Gesetz der Anthropophagie. „Sozial. Ökonomisch. Philosophisch. Das einzige Gesetz der Welt.“ In kleinen staccato-Häppchen wird ausgeführt, wofür und wogegen die neue Kunst steht, als politisch-kulturelle und zugleich ästhetisch-fiktionale Forderung. „Gegen alle Katechesen. Gegen die Mutter der Gracchen“ steht sie beispielsweise. Die tugendhafte Mutter der römischen Tradition, imperiale Mutter, wird abgelöst von der indigenen Gottheit Guaraci, Mutter der Lebenden, Sonnengottheit. „Wir wollen die karibische Revolution. Größer als die französische Revolution. Die Vereinigung aller Revolten, die dem Menschen dienen. Ohne uns hätte Europa nichts als seine armselige Erklärung der Menschenrechte.“ Das politische Vokabular wird zum militärischen: „Schreiten wir voran“. Kulturelle und künstlerische Avantgarde. Vorhut der Menschenfresser. „Roteiros. Roteiros. Roteiros. Roteiros. Roteiros. Roteiros. Roteiros.“ Nicht zufällig siebenmal die Route, die auch ‚Logbuch‘ oder ‚Reiseführer‘ heißen kann. Erschreibung der sogenannten Neuen Welt. „Routen. Routen. Routen. Routen. Routen. Routen. Routen“: Damit sind die Wege der Kolonisation gemeint. Im Manifest spricht sich Oswald also direkt gegen die europäische Eroberung und ihre Könige und Herrscher sowie ihre Geschichtsschreibung aus: „Gegen die Geschichten der Menschheit, die am Kap Finisterre beginnen. Die undatierte Welt. Unrubriziert. Ohne Napoleon. Ohne Cäsar. […] Aber es waren keine Kreuzfahrer, die kamen. Es waren Geflüchtete einer Zivilisation, die wir dabei sind aufzuessen, weil wir stark und rachsüchtig sind, wie der Jabuti.“ Der Jabuti ist eine Schildkröte, die in der brasilianischen Mythologie für Hochstapler und Gauner steht. Ein Mann wird übrigens im Text von Oswald ausdrücklich gegessen, und zwar ein Mann, der Galli Mathias heißt – was eine Anspielung auf das Wort galimathias aus dem 18. Jh. als Ausdruck für „unsinniges Gerede“ bedeutet.1 Dieser Mann, der gefragt wird, was das Recht sei, und der antwortet, es sei die „Garantie der Ausübung der Möglichkeit“, wird vom Verfasser des Manifests gegessen: „Comi-o.“, „Ich habe ihn aufgegessen.“ Die Brasilianer fressen also die Kolonisatoren, und Oswald persönlich frisst Galli Mathias, also deren unsinniges Gerede. Auch eine Anspielung auf Bischof Sardinha, mit dem sprechenden Namen, und dessen Verspeisung ist im Text anzutreffen, ein Missionar, der tatsächlich an der Küste Brasiliens 1556 von Einheimischen gegessen wurde. Rede und Herrschaft und Geschichte werden also einfach verschlungen im Text und wieder ausgeschieden. Der „heilige Feind“ wird in sich aufgenommen. Dabei werden die Elemente des Fremden vermischt mit indigenen Elementen, womit die menschenfressende Kunst erst vollendet wird. Etwa wird in einer Andeutung auf das amerikanische goldene Zeitalter ein Gedicht in indigener Sprache im Manifest anzitiert:
Catiti Catiti
Imara Notiá
Notiá Imara
Ipeju
Im Manifest der Pau-Brasil-Dichtung wird ein zweiter Exotismus aufgerufen und umgekehrt bzw. angeeignet, wobei das Ent-eignen zum An-eignen des Eigen-tümlichen wird: das Pau-Brasil ist wörtlich übertragen ein „glühendes Holz“, das für die Ausbeutung und Kolonisierung Brasiliens durch die Europäer steht. Schon der Name des Landes, benannt nach dem in Europa begehrten Holz, hängt also zusammen mit Enteignung und Bestimmung von außen, was die Avantgardisten um Oswald de Andrade mit ihrer Kunst und dem gemeinsamen Auftreten ändern wollen – vor allem auf die Kunst bezogen. Die Bewegung des Modernismo, der Oswald zusammen mit seinem Namenspartner Mário de Andrade, den Malerinnen Anita Malfatti und Tarsila do Amaral (s. Bild oben) und vielen anderen Künstlern aller Sparten wie Musik, Malerei, Tanz, Theater und Literatur angehört, organisiert 1922 eine Semana de Arte Moderna, eine Woche moderner Kunst im Teatro Municipal von São Paulo, mit der die junge Generation sich als Avantgardisten vorstellen und vor allem für ein neues Selbstbewusstsein der brasilianischen Kultur einstehen. Dieses andere, frühere Manifest der Pau-Brasil-Dichtung widmet sich vor allem der Ästhetik, vor allem künstlerischen Fragen, während das anthropophage Manifest viel philosophischer und auch noch politischer angelegt ist. Die Pau-Brasil-Dichtung soll eine Exportdichtung werden. Sie soll nicht mehr nur europäische Elemente importieren, sondern auch brasilianische Ästhetik exportieren. Dass mit den Begriffen des Import/Export wirtschaftliche Kategorien der Ausbeutung der Kolonisation und zugleich der Vermarktung des Exotismus angesprochen werden, wird dabei deutlich. Dass Ästhetik und ihre Rezeption auch immer mit Machtmechanismen zusammenhängen, auch. Dabei geht es Oswald um eine Inversion der Invasion: eine Umkehr der Einkehr des anderen ins Eigene, nämlich durch das Verschlingen von Anderem, und zugleich das Exportieren des Eigenen. Dabei sind die neuen Fakten dieser Ästhetik, dass Wagner untergeht in den Karnevals-Umzügen in Botafogo, dem Stadtteil von Rio. Und der neue Reichtum sind die „[ä]rmlichen Hütten in Safran und Ocker zwischen den Grüntönen der Favela“. Man muss diese Dichtung von der Seite Doktor, der Seite Zitate, der Seite bekannte Autoren befreien. Von der „doktoralen Seite“, und dem Gelehrtentum. „Aber es gab eine Explosion des Gelernten. Die Männer, die alles wussten, verformten sich wie aufgeblasener Kautschuk. Sie zerplatzten.“ Dagegen steht die Dichtung Pau-Brasil: sie soll „leichtfüßig und arglos“ sein wie ein Kind. Natürlich und neologisch. Diese Dichtung besteht aus Synthese, Gleichgewicht, Veredlung der Karosserie, Erfindung und Überraschung, wie es im Text heißt. Sie bedeutet eine neue Perspektive, setzt einen neuen Maßstab. Viele dieser wie auf einer Kordel aneinandergereihten Begriffe erinnern an den Futurismus, etwa die Idealisierung der technischen Industrialisierung, oder an den Dadaismus, etwa die Elemente der Erfindung oder Überraschung. Aber auch surrealistische Aspekte lassen sich in dieser anthropophagen Poetik des Pau-Brasil entdecken, die vor der eigentlichen Bekanntwerdung des ersten Manifestes von Breton entwickelt werden, etwa das Lob des primitiven Denkens, oder der Schriften von Freud. Die Beschreibung und die Hervorhebung moderner Technik leitet eine der poetischsten Stellen des Oswaldschen Manifestes ein, das sich anderswo auch oft in philosophische Begrifflichkeiten stürzt und sie umkehrt. „Masten. Gasometer. Schienen. Labore und technische Werkstätten. Stimmen und Klicken der Drähte und Wellen und Blitze. Sterne, durch fotographische Negative vertraut gemacht. Die Entsprechung der physischen Überraschung in der Kunst.“
In sehr klarer Sprache ist diese präzise Übersetzung von Oliver Precht gelungen, die durch etliche hilfreiche Verweise auf kulturelle und historische Bezüge angereichert ist. An einigen Stellen der Übersetzung wird deutlich, dass bestimmte Analogien Oswalds, die durch Gleichklänge im Original hergestellt werden, schwer zu übertragen sind. Etwa die wie eine Steigerung funktionierende Aneinanderreihung von „dores“, „ser doutos“, und „doutores“, auf Deutsch übertragen mit ‚Leiden‘, ‚gelehrt sein‘ und ‚Doktoren‘, kann unmöglich in der Übersetzung die Verbindung der Wörter wiedergeben, die aus „Doktoren“ eigentlich ein Zusammenspiel von Gelehrten und Schmerzen machen: Doloktoren vielleicht. Allerdings ist auf diesen Gleichklang in den Fußnoten hingewiesen, und auch die Gegenüberstellung von portugiesischem und deutschem Text ist dafür sehr hilfreich, denn so kann der/die Leser*in selbst den Gleichklängen wie auch in „inversão“ und „invasão“ nachgehen. Außerdem stehen mit den drei angehängten Essays des Philosophen Benedito Nunes, des Lyrikers Haroldo de Campos und des Übersetzers selbst unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung, das Manifest produktiv zu verdauen. Sie zeigen vor allem, wie sehr die Vorstellung Oswalds, brasilianische Kunst sei eine Menschenfresserkunst, sich aktuell gehalten hat und was sie weiterhin über das Verhältnis von Kunst des Zentrums und der Peripherie in lateinamerikanischen Kulturen aufzeigen kann. Es werden in den Essays auch Verbindungen zu anderen Philosophien nachgegangen, etwa dem Marxismus, den Oswald selbst im Wort „marxilar“, einer neologistischen Kombination von ‚den Kiefer betreffend‘ („maxilar“) und ‚Marx‘ andeutet, oder auch zu Ausführungen matriarchaler Gesellschaftssysteme. Die beiden Manifeste Oswalds mit den Kommentaren und die philosophisch-poetischen Essays häufen sich jedenfalls zum ästhetischen Festmahl auf. In diesem Sinne: Guten Appetit!
- 1. Diesen und viele andere hilfreiche Hinweise liefern die Fußnoten in Oswald de Andrade, Manifeste.
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