Der diskrete Charme der Mathematik
In der Sprache der Poesie stellt der Titel des Buches „Diskrete Stetigkeit“ ein Oxymoron dar. Denn während eine diskrete Menge aus endlich oder zumindest abzählbar unendlich vielen, einzelnen Punkten besteht, ist die Stetigkeit einer Funktion nur auf einer zusammenhängenden Menge definiert und bedeutet, dass der Graf der Funktion keine Sprungstellen aufweist. Warum der Lyriker Oswald Egger für seinen Essayband, der sich laut Untertitel mit Poesie und Mathematik beschäftigt, einen Titel wählte, der einen Widerspruch in sich darstellt, erschließt dem Leser auch nach 160 Seiten nicht. Zumal gerade die Mathematik, diejenige Wissenschaft ist, die größten Wert auf ein widerspruchfreies Theoriegebäude legt, auch wenn der Mathematiker Kurt Gödel 1931 mit seinem berühmten Unvollständigkeitssatz zeigte, dass jedes hinreichend mächtige formale System entweder widersprüchlich oder unvollständig ist.
Egger begreift Mathematik und Poesie als verwandte Denkarten, ein viel versprechender Ansatz. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei der Wald, ungeachtet der Brechtschen Diktion, dass „ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“. Anhand des Waldes und der Anordnung seiner Bäume entwickelt Egger allerhand geometrischen Überlegungen bis hin zur Betrachtung von Lichtstrahlen und der Geometrie einer Sphäre. Das ist seitenweise Mathematik in Prosa. Lesbar und nicht uninteressant, aber es klingt, als erkläre der Dichter sich selbst höhere Mathematik, vorzugsweise Topologie, und als hätte er dabei den Leser aus den Augen verloren: „Ich denke mir die mittlere Partie der Fläche festgehalten, dagegen die Randkurve allmählich aufwärts gebogen …“
Insgesamt bleibt der Bezug zur Poesie zu vage, er wird nur an wenigen Stellen explizit ausgeführt, etwa bei der mathematischen Anordnung von Buchstaben in einem Gedicht. Die zahlreichen gelungenen Handzeichnungen des Autors visualisieren zwar immer wieder den Sachverhalt, aber Sätze wie der folgende wirken nicht wirklich erhellend: „Der Wald ist in bezug auf die einzelnen Bäume und ihr Aggregat je etwas anderes, daher auch nicht bloß, was ich willkürlich zu der vermeintlichen, ungezählten Summe von Bäumen hinzumeine; er ist nicht nur quantitativ mehr als eine Unmenge von Bäumen.“
Für den Mathematiker liefert der Band keinerlei neue Einsichten. Für den literarisch Interessierten ermöglicht Eggers essayistische Betrachtung zwar Einblicke in mathematische Erkenntnisse, etwa in das Gebiet der Riemannschen Flächen, sie geriert aber kaum Essentielles zum spannenden Themenkomplex Poesie und (Natur-)Wissenschaft. Beispielsweise wird den zentralen mathematischen Fragen nach Existenz und Eindeutigkeit gar nicht erst nachgegangen. So bleibt unter dem Strich festzustellen: Der diskrete Charme der Mathematik konnte nur sehr eingeschränkt für einen poetischen Erkenntnisgewinn genutzt werden.
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