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Kritik

Hätt ich mich bloß noch mal umgedreht.

Hamburg

Kindheit von Peggy Parnass mit Farbholzschnitten von Tita do Rêgo Silva ist ein wunderbares Künstlerbuch, das man nicht in den höchsten, sondern in den allerhöchsten Tönen loben muss. Und zwar gleich doppelt. Einmal für die berührende Erzählung und ein weiteres mal für die zauberhaften Farbholzschnitte.

© Klaus Raasch

Peggy Parnass beschreibt darin ihre eigene Kindheit, welche bedingt durch die Zeitgeschichte eigentlich gar keine Kindheit war. Die Erzählung beginnt mit ihrer Mutter:

Egal wie, jede Erinnerung hängt
mit Mutti zusammen. Mit ihrer Anwesenheit oder Abwesenheit.
Daran hat sich leider nichts geändert.

Die Familie ist zunächst noch sehr groß. Wichtige Rollen im Leben der jungen Peggy nehmen neben der Mutter, noch der Vater Pudl, ihr kleiner Bruder Bübchen, ihre Cousine Urselchen und mehrere Onkeln und Tanten ein. Doch bald schon kommt es zu zahlreichen schmerzhaften Trennungen. Mit dem kleinen Bruder wird sie ganz alleine nach Schweden geschickt. Ihre Eltern wird sie nie wieder sehen, da sie in Treblinka ermordet werden sollen. Und selbst von ihrem Bruder wird sie in Schweden getrennt, da sie zu unterschiedlichen Pflegefamilien kommen. Im Buch werden die Erinnerungen lebendig, die zerrissene Familie wird gewissermaßen im Rückblick wieder zusammengeführt. Sie kann und muss sich erinnern, an all die geliebten Menschen, die sie verloren hat. Auch für ihren Bruder, der zu klein war, um sich selbst daran erinnern zu können, wie sie im Nachwort schreibt: „Gady, der früher Bübchen genannt wurde, war erst vier, als wir aus Hamburg weg mußten. Er kann sich nicht mal an unsere Eltern erinnern. An nichts und niemand von damals.“

Das Buch ist nicht anklagend, aber keineswegs beschönigend. Die Erzählungen sind sehr kurz und prägnant und in ihrer Offenheit entwaffnend und sehr bewegend. Es wird die Sicht eines Kindes wiedergegeben. Das bedeutet, dass persönliche Erlebnisse gleichbedeutend wie historische sind. Das Unrecht kommt von allen Seiten. Unrecht wird nicht hinterfragt, aber sehr wohl als solches erkannt. Grausamkeit gegenüber Kindern ist überall anzutreffen. In Deutschland ebenso wie in jüdischen Erholungsheimen oder in Schweden.

Ich wurde immer wieder in Erholungsheime geschickt.
In einem hatte ich furchtbar Heimweh. Dort hab ich mittags, weil ic
den Tisch nicht verlassen durfte, in den Teller gekotzt.
Die Kinderschwester zwang mich, das Erbrochene aufzuessen. Wie ein
Perpetuum mobile gegessen – gekotzt – gegessen – gekotzt. Bis auch
die Pädagogin die Prozedur  satt hatte.
Kinder sind diesem Unrecht völlig schutzlos und alleine ausgesetzt. In Schweden ist sie der Willkür der Leiterin von Bübchens Heim ausgeliefert:
„Was willst du?“ Dann mußte ich immer sagen: „ Ich will meinen Bruder
besuchen.“ Bübchen war dann schon im Korridor und fing an zu
weinen und meinen Namen zu schreien. Entweder trat sie dann endlich
langsam beiseite, oder sie sagte gedehnt: „Es geht nicht.“ „Ja, warum
nicht?“ Triumphierend: „Er ist krank.“ „Wieso, da steht er doch.“
„Du hörst, was ich sage, er ist krank!“

Es wird jedoch nicht aus dem Moment berichtet, sondern im Rückblick erzählt, mit dem Wissen, was in der Folge noch passieren wird. Die Erzählerin ist dabei sehr selbstkritisch. Sie meint kein braves Kind gewesen zu sein. Während sich ihre Wut gegen andere richtet, scheint sie Vorwürfe vorwiegend sich selbst zu machen. Das Buch ist ein Zurückerinnern an eine verlorene Kindheit und an ihre Familie. In kleinen Details und scheinbar unwichtigen Begebenheiten werden die geliebten Menschen greifbar. So werden beispielsweise die weichen Hände der Mutter und ihr lautes, fröhliches Lachen beschrieben. Die Erinnerungen sind äußerst lebendig. Unrecht wird nicht durch die seither vergangene Zeit abgemildert. Peggy Parnass meinte im Interview mit Isabelle Hofmann: „Ich vergebe gar nichts! Die Erinnerungen klingen auch nicht ab, wie manche glauben. Es wird nichts schwächer, im Gegenteil, die Erinnerungen sind stärker geworden.“

Auch wenn Peggy Parnass meint, keine wirkliche Kindheit gehabt zu haben, so sind doch Kinder das Herz der Erzählung. Das Buch stellt sich ganz auf die Seite der Kinder. Die Zeit, welche beschrieben wird, ist eine Zeit, in der viele Kinder ganz auf sich alleine gestellt sind, ganz gleich wo sie sich befinden:

Als Bübchen und ich neu in Stockholm waren,
haben wir uns richtig verlaufen, ohne es zu wollen. Von morgens an,
den ganzen Tag. Wir konnten kein Wort Schwedisch. Erst abends
brachten uns Leute zurück zu den Pflegeeltern, deren Adresse wir nicht
mal hatten. [...] Ich dachte, die hätten sicher die Polizei
geholt und uns überall suchen lassen. Daß sie dann schimpfen
und schreien würden, vielleicht uns sogar schlagen. Aber es war viel
schlimmer. Sie hatten nicht mal gemerkt, daß wir weg waren.
Von da an wußte ich, daß wir allein sind. Ein für allemal.

Kindheit von Peggy Parnass ist nicht nur aber auch ein Zeitdokument. Die Auswirkungen des Nationalsozialismus werden schon sehr bald im alltäglichen Leben spürbar. Überall tauchen Verbotsschilder für Juden auf. Das Missachten führt mitunter zu Angstzuständen der ganzen Familie, beispielsweise während eines verbotenen Schwimmbadbesuchs:

Und dann gegen Schluß wurde es immer leerer und leerer. Da  haben
wir alle nur noch an Muttis schwarze Locken gedacht, und daß jeder
sieht, daß wir Juden sind. Mutti war ganz, ganz blaß und hat sich nicht
zum Ausgang getraut. Die Angst wurde immer schlimmer, weil wir ja
irgendwann raus mußten, an dem Verbotsschild vorbei.

© Klaus Raasch

Müsste man die zwei vorherrschenden Gefühle, die in Kindheit spürbar werden, benennen, so wäre das Liebe und Wut. Die Liebe der Eltern zueinander und zu ihren Kindern und die Liebe der im Exil voneinander getrennten Geschwister. Trauer jedoch wird umgewandelt in Wut. Diese Wut richtet sich gegen alle und auch gegen die eigene Hilflosigkeit.

Ich hab auch reichlich gehaßt.
Erst die Täter. Dann auch die Opfer, die sich nicht wehrten. In Schweden
alle zwölf Pflegeeltern-Paare. Ihre Kinder.
[...] Ich haßte sie alle. Weil sie nicht Mutti waren.

Auf die Frage von Isabelle Hofmann, was Peggy Parnass die Kraft zum weiterleben gegeben habe nannte sie zuerst ihre Wut und erst danach ihre Liebesfähigkeit: „Meine Wut. Meine Liebesfähigkeit. Ich habe immer wieder Menschen geliebt. Freundschaft ist für mich das Allergrößte. Freundschaft ist ja auch Liebe. Etwas, wo ich mich reinkuscheln kann.“

Der Verlust der Eltern ist immer noch schmerzlich. Nach ihrem Vater drehte sie sich nicht mehr um, als sie an der Hand eines fremden Mannes, zu dem sie Vater sagen sollte, an den Soldaten vorbeiging. Ihrer Mutter jedoch blickte sie so lange wie möglich nach:

Obwohl sie
wußte, daß sie uns nie wieder sieht, stand sie da und hat gelacht, ihr
herrliches Lachen mit weit aufgerissenem Mund, und gewunken, solange
'wir sie sehen konnten. Damit uns der Abschied nicht so schwerfällt.
Hat auch nichts genützt. Ist nicht wahr. Hat es doch.

An einer anderen Stelle im Buch heißt es über ihre Mutter: „Ich wünschte, sie wäre stärker gewesen.“ Doch den eigenen Kindern bis zuletzt lachend nachzuwinken um ihnen den Abschied etwas leichter zu machen, wenn man ahnt, sie nie wieder zu sehen, verlangt eine unvorstellbare Stärke.

Die Ermordung und der Verlust von zahlreichen Familienangehörigen stehen hinter dem Buch. Dennoch steht das Leben im Zentrum. Trotz dem Verlust und der Trauer, der Entwurzelung und dem ungeheuren Leid hält Peggy Parnass die kleinen Momente der Freude fest. Es siegt die Hoffnung, nicht die Verzweiflung.

Das Ende ist sehr versöhnlich. Die Wut der Ohnmacht führte immer wieder zum Wunsch nach Rache. Das Kind möchte aus Hass umbringen und sich rächen. Dieser Hass richtet sich gegen einzelne greifbare Personen. Im Buch werden die Vergehen von einzelnen Menschen beschrieben. Beispielsweise als die Milchfrau ihre Mutter öffentlich ohrfeigt und zur Tür hinauswirft. Jahre später als Erwachsene sucht sie die Leiterin von Bübchens Heim und auch die Milchfrau wieder auf, um sich zu rächen. Doch sie kann im Moment der Begegnung nur schweigen, wobei gerade in diesem Schweigen die stärkste Anklage liegt. In einem Interview von Isabelle Hofmann erklärte Peggy Parnass, warum sie in diesen Momenten nichts tun konnte: „Weil sie schwächer waren, zu einem Nichts geschrumpft waren. Gegen solche Menschen konnte ich nicht angehen. Konnte nur angeekelt wieder weggehen. Es ist ein nicht ausgelebter Hass.“

Die Farbholzschnitte von Tita do Rêgo Silva sind unglaublich schön. Sie sind sehr liebevoll gemacht und fügen sich sehr gut in die Erzählung ein. Auf ausdrücklichen Wunsch von Peggy Parnass wird viel Gelb verwendet. Dieses Gelb steht für die Liebe der Eltern. Die Farbholzschnitte enthalten viele Blumen und wunderbare Phantasiewesen.

© Klaus Raasch

Jede Farbe wurde einzeln gedruckt. Tita do Rêgo Silva verwendete für jedes Blatt nur eine Holzplatte. Nachdem die erste Farbe fertig gedruckt war, bearbeitete sie die Holzplatte weiter und anschließend wurde die zweite Farbe über die erste gedruckt und so fort. Da die Platten immer weiter bearbeitet wurden, bleibt am Schluss nur die Druckplatte der zuletzt gedruckten Farbe erhalten. Alle vorhergehenden Formen sind „verloren“. Somit ist ein Neudruck nicht mehr möglich.

© Klaus Raasch

Das Künstlerbuch ist ein Geschenk. Zunächst ein Geschenk von Peggy Parnass an ihre Eltern, welche beide im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurden. Im Interview mit Isabelle Hofmann meint sie über ihr Buch: „Es ist eine Hymne an meine Eltern. Sie haben keinen Grabstein, sie haben jetzt das Buch.“ Und auch im Nachwort schreibt sie: „Also kein Grab und kein Grabstein. Aber jetzt dieses wunderbare Buch zu ihren Ehren.“ Kindheit ist aber auch ein Geschenk von Tita do Rêgo Silva an Peggy Parnass. Beide sind nicht nur Nachbarinnen, sondern auch gute Freundinnen. Und nicht zuletzt ist Kindheit ein Geschenk an uns alle.

Peggy Parnass und Tita do Rêgo Silva © Fotografie Klaus Raasch

 

Peggy Parnass
Kindheit
Edition Klaus Raasch
2013 · 48 Seiten · 48,00 Euro

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