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Kritik

In der Blaupausenlandschaft.

Man müsste die ganze Gegend erzählen, die Zeit: Peter KurzecksVorabend

Schon vier!, staunt der Vater ein ums andere Mal, wenn er seine Tochter ansieht. Staunt auch und immer noch über sich selbst, "jetzt hast du ein Kind!" Die Kleine dagegen hat jeden Morgen nur Augen für die Erstklässler, die ihr auf dem Weg in den Kinderladen begegnen. Erst vier!, seufzt ihr Blick, da sie die eigene Zukunft so glänzend im Visier hat. "Muß sie suchen und sehen und muß ihnen zusehen und muß ihnen nachsehen. Und dabei an meiner Hand zerren vor Begeisterung. Schulkinder, sagt sie andächtig. Schulkinder!"

Carina heißt das Mädchen, ihr hat Peter Kurzeck seinen neuen Roman "Vorabend" gewidmet. An sie ist er, mehr noch, adressiert, vom ersten bis zum letzten Wort. Denn Carina ist es, die das Ich dieses Buchs nicht nur mit ihrer wiederkehrenden Forderung "Erzähl, Peta, erzähl!", sondern auch als sein Nachkomme vor sich hertreibt: durch ein Wochenende in Frankfurt-Eschersheim Anfang der 1980er-Jahre, an dem "Peta" seiner Tochter, deren Mutter Sibylle, einem befreundeten Paar und nicht zuletzt sich selbst von der eigenen Herkunft erzählt; auch um sein Jetzt - "mein Kind und schon vier"! - zu erklären.

"In die Reih machen": So nannte es sein Schwager, der Bastler, früher, wenn er sich der kaputten Dinge annahm, die andernfalls in der Vergessenheit des Mülls gelandet wären. Auch der Erzähler will konservieren, will Ordnung in die Dinge bringen: "Man müßte, sagte ich, die ganze Gegend erzählen, die Zeit! Und herbeireden alles, was nicht mehr ist."

Was nicht mehr ist, das ist die Kindheits- und Jugendlandschaft des hessischen Dorfs Staufenberg in der Nähe von Gießen in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Peter Kurzecks Melancholie gilt jedoch nicht allein den Dingen als solchen, sondern zu allererst der Zeit und ihrem "Wegverschwinden" in die Uneinholbarkeit: "Aber wenn man sich dann erinnert, fällt einem immer noch etwas ein, was noch früher war."

Deshalb handelt das Erzählen von den Veränderungen und Umbauten der Landschaft und der gesellschaftlichen Infrastruktur: von den Straßen, die andauernd begradigt und verbreitert werden; von den kürzer werdenden Arbeitszeiten, die so etwas wie Freizeitgestaltung möglich und vor allem nötig machen; vom Radio, das den Kanarienvogel ersetzt, und vom Fernseher, der Moden, Themen und Gewohnheiten umformuliert; von den Hühnerställen, die man in Garagen umwandelt, weil Hühner nicht mehr gebraucht werden, Autos aber schon; von der Austreibung der Natur, die nur mehr in kitschigen Zitaten überlebt: "Geländewagen", "Waldschwimmbad", "in jeder Fußgängerzone drei Blumenläden, eine Industrie, aber die Blumen, die von alleine wachsen, haben sie ausgerottet".

Und dieses Erzählen handelt von der Sprache, denn auch das Vokabular wird in jenen Jahren ständig neu sortiert; plötzlich finden sich dort Wörter wie "Verkehrserziehung", "hygienisch", "Gewerbegebiet", "Trimmdichpfad" und "Fußgängerzone". Es werden die ersten Kaufhäuser im Stadtzentrum eröffnet und ein paar Jahre später wieder geschlossen, verdrängt von ersten Discountmärkten auf der grünen Wiese, die gemeinsam mit den Neubaugebieten - noch so ein neues Wort - das Blickfeld des Kindes verstellen. "Und jetzt, sagte ich, ist der Horizont teils aufgeschüttet, teils abgegraben und platt. Eine Straßenlandschaft. Eine Blaupausenlandschaft. Eine Landschaft von Amts wegen. Eine Bauunternehmer- und Leitplankenlandschaft." Eine Landschaft, in der sich der Erzähler nicht verorten kann, weil sie kaum mehr Spuren seiner Vergangenheit trägt. Deshalb muss sie im Erzählen als so vergangene wie gegenwärtige aufgehoben werden.

"Kürzlich, sagte ich, also vor zehn oder fünfzehn Jahren": Damals, das ist in "Vorabend" keine andere Zeit, aber eine andere Person. Ein Ich gibt es bei Kurzeck fast ausschließlich im Präteritum und vor allem in der Formel "sagte ich", die ein ums andere Mal den Rahmen ins Gedächtnis ruft, damit man nicht vergisst, dass man einer Geschichte und nicht einer vorgeblichen Wirklichkeit lauscht.

Seine frühere Gestalt spricht der Erzähler mit "du" an, oft fehlt auch das Subjekt des Satzes oder das Verb, dann herrscht die zeitlose Gegenwart des Inventars, der "Bestandsaufnahmen": "Und dann, sagte ich, bei der Eröffnung von Massa. Muß 1977 im Frühling, im Vorfrühling. Eher noch Nachwinter. Da hat längst jeder ein Auto. Die Straßen ausgebaut. Schnellstraßen. Neue Autobahnen. Der Gießener Ring. Und jedes Dorf mit Autobahnanschluß manche zwei oder drei. Und die Ortsdurchfahrten alle so ausgebaut, daß man im vierten Gang durchfahren kann. Für den Massa extra Wegweiser, eine Abzweigung, eine eigene Zufahrtsstraße und Reihen und Reihen von Kundenparkplätzen. Parkplätze wie Sand am Meer, sagen die Leute."

"Vorabend" ist der fünfte Band der von Peter Kurzeck auf zwölf Bände angelegten Chronik "Das alte Jahrhundert", und es ist mit über 1000 Seiten der bislang bei Weitem umfangreichste. Seiner Rede, dieser Roman sei ihm "dazwischengekommen", darf man wohl durchaus Glauben schenken, denn mindestens darin ähnelt Kurzeck seinem Ich-Erzähler aufs Haar: Die begradigten und ausgebauten Strecken sind dem Autor gründlich zuwider, weil man all die Erinnerung nicht auf vorgefertigte Bahnen lenken kann, sondern ihr auf ihren semantischen wie grammatischen Kehren, Wiederkehren, Abwegen und Serpentinen folgen muss, will man wenigstens eine Ahnung von der ganzen Gegend, der ganzen Zeit erlangen.

Und doch steht zu befürchten, dass auch der Mainstream bald den Namen "Peter Kurzeck" in seinen begradigten und ausgebauten Mündern führen wird, weil schon geringe Dosen der Lektüre sofort schwerstabhängig machen. Und weil sich erst mit diesem Namen im Mund ordentlich sprechen lässt über die Literatur der Gegenwart.

Peter Kurzeck
Vorabend
Stroemfeld
2011 · 1022 Seiten · 39,80 Euro
ISBN:
978-3-866000797
Erstveröffentlicht: 
Berliner Zeitung

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