Die Poetik des Kinos
Der Filmkritiker Peter Nau hat ein Bändchen mit kurzen Texten zu Filmen geschrieben, die mit Berlin, Ost oder West oder Ost und West, zu tun haben. Es ist eine kleine Geschichte des deutschdeutschen Nachkriegsfilms geworden und eine große Liebeserklärung ans Kino (und an Berlin). Eine Geschichte, die nicht auf Analyse und Synthese setzt, sondern auf die subjektive Empfindung.
Das Kino erzählt Geschichten – und es erzählt die Geschichte des bewegten Bildes. Und in der Geschichte des bewegten Bildes seine eigene Geschichte. Das ganz große Staunen, das der erste Film auslöste, kann es da nicht mehr geben, denn jeder Film ist, als Element des Mediums betrachtet, immer schon etwas Bekanntes. Aber in der Art, wie er dem Medium etwas hinzufügt, es reflektiert, mit ihm spielt, es unterwandert, dekonstruiert, entfaltet, potenziert, vermag er zu überraschen.
Und in den Geschichten wie in der Geschichte seiner Gattung erzählt der Film, das Kino die Geschichte – historia – mit. Die sich nicht auf der Leinwand ereignet, sondern mit ihr, interagierend. Die dokumentiert wird durch den Film, fiktionalisiert, gedeutet, manchmal sogar erst geschaffen. In einem bestimmten Rhythmus, einer bestimmten Kadrierung, mit einer bestimmten Absicht (eingeschlossen die der Absichtslosigkeit), in einem Genre mit seinen Verlogenheiten und Verspieltheiten und Traditionen und Konterkarierungen, seinem Wahnsinnsanspruch, etwas zu bedeuten (und vielleicht umso mehr, je mehr es versucht, alle Bedeutung von sich abzutun). Mit seiner Poesie.
Dass Film trotz seiner linearen Struktur Poesie ist, und in diesem Poetischen nicht übersetzt werden kann in etwas anderes – das immer wieder vor Augen zu führen ist vielleicht das Schönste an dem Buch von Peter Nau. Er erzählt auch gern kurz und knapp den Inhalt. Aber dann lenkt er den Blick auf „Kleinigkeiten“, lyrische Momente, in denen die Zeit stillsteht (etwas für den Film Ungeheuerliches, ist er doch gleichmäßig getaktete, immerfort unerbittlich voranschreitende, vergehende Zeit, und zwar sowohl in der Erzählung – Handlung zieht Handlung nach sich, allen Tricks und den Versuchen Achronizität oder Synchronitizität zu erzeugen, zum Trotz – als auch technisch: 24 Bilder pro Sekunde fließen durch den Projektor, Einstellung folgt auf Einstellung, Schnitt auf Schnitt auf Überblendung, Schwarzfilm, Zwischentitel). Bei Peter Nau aber wird ein Bild herausgehoben, gerahmt, vergrößert, um es genauer, länger anschauen zu können, durch die Augen des Liebenden als eine zweite, schärfende Linse.
Denn ja, Peter Nau ist ein Liebender, und das macht sein Buch mit Filmminiaturen zu etwas Besonderem. Dass ein Kritiker auch Emotionen hat, dass er berührt, verärgert, erstaunt aus einem Film geht, dass er, durch einen Film in Schwindel versetzt, andere dazu verführen will, sich diesen Film gleichfalls anzuschauen, gilt gemeinhin als unprofessionell. Und dabei ist es doch gerade das, was man erhofft, wenn man im Dunkeln sitzt, das Aufflammen des ersten Bildes auf der Leinwand erwartend: in den Bann gezogen zu werden von einer Ästhetik, die die zurechtgelegten kritischen Kategorien wegsprengt, berührt zu werden von einer Schönheit, von der man nichts wusste, nichts wissen konnte. Vielleicht nicht einmal träumen. Nach der man sich aber, ohne es zu wissen, sehnte.
Über Peter Nau ist wenig in Erfahrung zu bringen. Selbst sein Verlag, der ihn im Begleittext zum Buch als „großen Filmkritiker“ bezeichnet, weiß dann kaum Angaben zu machen zu Leben und Werk, zu Verdiensten oder seinen „Filmhinweisen“, die er in den siebziger Jahren für den Berliner „Tagesspiegel“ schrieb. Schon damals nämlich entwickelte Nau das Format der Filmminiatur oder des Filmessays, eine Gattung, die bis in die Neunziger hinein beliebt war und in deren Mittelpunkt weniger der Film, seine Nacherzählung, seine Analyse stand als die Erinnerung an ihn, eine bestimmte Szene, eine Geste, einen Schauspieler, eine Einstellung oder Kamerafahrt, die einen nicht loslassen, an die man sich erinnert auf dem Heimweg oder noch am nächsten Tag und übernächsten. Und manchmal über eine lange Zeit.
Und so ist der kleine Band von Peter Nau nicht nur einer über Filme und ihre realen und fiktiven Protagonisten, es ist vor allem auch ein Buch darüber, wie über Filme geschrieben und gesprochen wird, werden kann. Die Miniaturen sind verbalisierte Nachbilder, die ein Film im Gedächtnis hinterlässt. Natürlich ist es ein nostalgisches Buch, eines, das der Zeit, in der diese Filme entstanden sind, nachtrauert, wie auch der Vergangenheit des Kinos in der geteilten Stadt, deren spannungsgeladene Existenz zwischen den Systemen diese Filme erst möglich machte.
Peter Nau schafft eben das: Eine Sehnsucht zu wecken nach den Bildern, die ihn berührt haben. Man möchte sie wiedersehen, die Filme, über die er schreibt. Die Orte aufsuchen, an denen gedreht wurde, wenn sie in eben jenes Licht getaucht sind wie in einer der beschriebenen Szenen, graublaue Morgendämmerung oder schwärzeste Nachtfinsternis oder bunt flackernde Neonreklamentristesse. Und unbedingt möchte man die Filme sehen, die man noch nicht kennt. Möchte spüren, was Nau gespürt hat und wovon er jetzt erzählt, möchte erfahren, ob man dieselbe Empfindsamkeit und Empfänglichkeit hat für Atmosphärisches, für die Geste einer Schauspielerin, den Witz eines Dialogs. Möchte wissen, ob sich das Geschriebene im Gesehenen wiederfinden lässt, mit ihm verbindet oder quer steht, ob eine andere, eine eigene Seh-Erfahrung sich darüberschiebt.
Ja, man bekommt große Lust, all die Filme, über die Peter Nau schreibt, (wieder-) zu sehen. Aufmerksam. Aufmerksamer. Wach.
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