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Kritik

Liebesgedichte

Ein sorgfältig komponierter Band, in dem die Texte auf vielfältige Weise zueinander in Beziehung stehen.
Hamburg

Wenn ein lebender Autor wie Petr Borkovec einen Gedichtband scheinbar naiv mit „Liebesgedichte“ betitelt, ist Vorsicht geboten. Tatsächlich unterlaufen die ersten Gedichte des neuen Buches zuerst einmal die Erwartungen, die der Titel weckt. In „Der abgelassene Teich“, „Hirschkäfer“, „Auslichtung“ und „Der Altarm“ findet man sich einer dicht beschriebenen, zeitweilig surreal anmutenden Natur gegenüber:

Der tagsüber ausgelichtete Ahorn
ist jetzt zutraulich wie ein Hund.
Hockt auf dem Schoß, schleckt mich ab,
wedelt mit dem abgezwickten Schwanz.
                                                               (Auslichtung)

Borkovec versteht es, in seinen Gedichten ein semantisches Flimmern zu erzeugen, indem er den Dingen Eigenschaften und Handlungen zuschreibt, die die herkömmliche Wahrnehmung überschreiten, wie etwa im vorangegangen Zitat dem Ahorn, der sich als Hund zu gebärden beginnt. Auf diese poetischen Kippfiguren treffen wir immer wieder in seinen Gedichten. Im ersten Teil von „Die Wasserjungfer“ wird die mythische Figur als Libelle (die Azurjungfer ist eine heimische Schlanklibellenart) beschrieben, deren gasflammenblauer Hinterleib wie eine „Mordwaffe“ wirkt, bevor sie sich im zweiten als fleischgewordene Sirene über den verstorbenen Geliebten beklagt. Der menschliche Blick in die Natur ist immer ein von der jeweiligen Kultur überformter und angereicherter. Der Autor versteht es, diesen Reichtum auszustellen, die Fäden des vielfach verschlungen Paars Natur und Kultur sichtbar zu machen, zumal es sich oft um Beobachtungen aus dem Garten handelt, einer vom Menschen angelegten und gehegten Natur.

Und das wunderbare, zum Quadrat tendierende Format der Edition Korrespondenzen gibt den Gedichten in der gut lesbaren Übersetzung von Christa Rothmeier (leider ist dem Rezensenten aufgrund mangelnder Tschechisch-Kenntnis eine detailliertere Würdigung nicht möglich) auch den notwendigen Raum, in dem diese Lyrik atmen kann.

Das Ineinander von Naturbeobachtung, Alltag und Familienleben ist kennzeichnend für viele Texte des in Louňovice/Launowitz zwischen Prag und Brünn beheimateten Autors.

Das ist kein Zufall, geht es Borkovec doch darum in seiner Poesie „die Kette nicht reißen zu lassen“, wie er es in Bezug auf die Tradition einmal formuliert hat. Es ist daher nur konsequent, dass der einzige, sich über zwölf Seiten ziehende Zyklus in diesem Band sich mit „Antonie Fliegerová, geboren 1921, gestorben 2001“ beschäftigt, von der man annehmen könnte, dass sie seine Großmutter war. In „Vogelfang“ macht sich das lyrische Ich Vorwürfe, die Kranke, die ihm in ihrem Garten die Natur nahe gebracht hatte, nicht betreut zu haben, als es auf ihr Lebensende zuging. Im Gedicht macht er sich auf „die Suche nach einer wenigstens kleinen Gewissheit, was dein Jetzt angeht“. Denn erst der Anschluss an den Blick der Großmutter auf die Welt, lässt das Ich zur Sprache kommen, mehr sehen als nur sich selbst:

In deinem Garten sangen Vögel. So viele Beschreibungen,
Metren, Metaphern, hatte ich für sie. Aus allen hast du mich
aufmerksam verfolgt. Was aber sahst du? Wie hättest du sie
beschrieben? Ich fürchtete mich so, alleine zu schauen. Ich hätte
so viel Mut beweisen müssen. Und der fehlte mir.“

Borkovec formuliert in diesem Zyklus die Urszene seiner Poesie, den Moment, in dem das zuerst Wahrgenommene in ein anderes Bild, wir nannten das vorhin „Kippfigur“, umspringt:

(...) Der winzige Moment, wenn man den
Anflug einer Heuschrecke für das Rascheln eines Kaninchens
hält. Eine Amsel im Laub für eine Schlange. Eine Heuschrecke,
bevor sie sich in etwas anderes verwandelt.

Die Großmutter darf in diesem Kontext wohl auch als Trägerin der literarischen Tradition gelesen werden, die die Themen und die Formen ihrer Behandlung vorgibt und zu der sich jeder Autor erstmals in ein Verhältnis setzen muss, das ihn produktiv werden lässt. Und so endet der Zyklus auch konsequent mit einem einzeiligen Gedicht:

Heute zetern die Vögel. Wir bestimmen sie gemeinsam. Gleichgewicht.

Selbstverständlich kann die Hommage an Antonie Fliegerová auch als Liebeserklärung gelesen werden, doch wie hält es dieser Band mit der erotischen Liebe? Der Garten muss nach dem Winter zuerst einen „Rückschnitt“ über sich ergehen lassen, damit die slawische Göttin Lada, schaumgeboren wie einst die mediterrane Aphrodite, mit gereimten Versen und „holdem Gesang“ den Frühling einläuten kann. Leider hat die Übersetzerin Christa Rothmeier in diesen Passagen auf die Nachbildung der Reime verzichtet, sodass man erst durch einen Blick auf das Original die Dimension des Reimes zu entdecken vermag. Allerdings bricht der Autor sofort das Pathos des Beginns, entpuppt sich die Göttin doch sehr schnell als „Eichhörnchen mit einer Maus in den Zähnen“, sodass es am Ende nur heißen kann: „Hohle Harfe! Erschalle!“

Und was hinterlässt die Göttin? Eine „Kartusche“, so der Titel des folgenden Gedichts, ein in Latinglisch gegossenes Versprechen, wie es uns täglich als Spam erreicht, nur nicht so elegant mehrsprachig verzwirbelt, wie es Miss Benedicta Cassala im Text formuliert: „ut per te me privatim/pictures. waiting.“ Wann haben wir das letzte lateinische Gedicht eines zeitgenössischen Autors gelesen? Borkovec erlaubt sich diesen Spaß, der durch keine nachgereichte Übersetzung gemildert wird.

Wer kein Latinum hat, kann selbstverständlich weiterblättern, denn er wird auch in anderen Texten auf Borkovecs Strategie stoßen, Gedichte durch die Verwendung eines exotischen Vokabulars unter Spannung zu setzen. Sehr schön gelungen ist das beispielsweise in „Colopteryx splendens“ (gebänderte Prachtlibelle), das in der Form eines Fotokommentars, wie man ihn etwa von flickr kennt, umgangssprachliche Wendungen mit lateinischen Begriffen zur Reaktion bringt:

Dieses avatarblaue Flair, ein
echt perfektes Foto, mit Megafarben,
die Flügelmale und die Äderung, man sieht, du hast gewartet;
ich sah bis jetzt nur Imperatoren herumfliegen
und Unmengen Exuvien, wohl von ihnen.

Bei Exuvien ist wohl ein Griff zum Lexikon angebracht, der einen darüber aufklärt, dass damit die abgeworfene Haut der Häutungstiere gemeint ist. In diesen mit Fremdwörtern gespickten Zeilen hat sich die moderne mediale Umwelt breit gemacht, die nicht nur durch Zeitlupen und Supermakroaufnahmen den Blick der breiten Masse auf die Natur verändert. Neue visuelle Erlebnisse wie James Camerons Science-Fiction-Spektakel vermögen sogar so etwas Beständigem wie Farbe neue Namen zu verleihen.

In immer neuen Anläufen versucht Borkovec zeitlich Entlegenes oder scheinbar dem Wandel Enthobenes wie die Natur an unsere zeitgenössische Lebenswelt anzuschließen. Das gelingt oft, manchmal lässt es den Leser aber auch ratlos zurück, wie beispielsweise in „Alexandrien“, das eine Aneinanderreihung von Plattitüden über die Liebe liefert, deren poetische Mehrwert sich nicht einstellen will. Man sieht, der Autor versucht Grenzen, an die er sich vielleicht bisher gehalten hat, zu überschreiten, mit seinen Gedichten da und dort in Neuland vorzustoßen, ohne immer zu überzeugenden Ergebnissen zu kommen (Miesmuscheln; Dakine; Dovadola, Meldola, Imola).

Ein ganz anderes Gewicht entwickeln die Texte, in denen das familiäre Umfeld mit seinen Sorgen und plötzlichen Einschnitten aufblitzt. In „Ein Wintertag zu Hause“ ist es der Tod der Mutter vor einem Jahr, in „Im Februar“ jener des Vaters:

Vater lag im Sterben, ich hatte
vier Forellen in der Tasche.
Die Fische auf Eis, als Vater dann starb.

In solchen Zeilen zeigt sich Borkovecs Meisterschaft auf engem Raum überschießende Bilder zu erzeugen, die existentielle Erfahrungen evozieren und in den LeserInnen tiefere Schichten zum Schwingen bringen.

Und die Liebe? Die kehrt in den Texten in den verschiedensten Spielarten wieder, mal derb: „und in der Nacht ihn mir/dort reinzustoßen, wortlos ihn mir dort“ (Szene aus einer Wasservogeljagd), mal zweideutig: „Wir saßen da im feuchten Moos./Den Puls maß, maß uns ein Specht.“, oder vergänglich: „Der Specht zog Würmer da aus Knochen.“ (Launowitz), mal virtuell: „All die Filme mit einem Bordell/ und einer Kamera in jedem Zimmer“ (Filme). Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.

„Liebesgedichte“ ist ein sorgfältig komponierter Band, in dem die Texte auf vielfältige Weise zueinander in Beziehung stehen. Themen, Motive, bestimmte Tierarten wie Libellen und Eulen kehren immer wieder. Die mythischen Nachtvögel durchziehen mit ihrem Flug, ihrem Ruf und ihrer Gegenwart die Tage des Autors und regen ihn zu immer neuen poetischen Annäherungen an. Manche Gedichte haben ein Pendant, das sich durch den Titel (Louňovice/Launowitz), durch die unmittelbare Aufeinanderfolge (Das Inserat/Die Drossel) oder gemeinsame Motive wie den Schulwechsel (Wir schreiben dich ein, Eine leichtere Schule) ausweist. Als Leser/in ist man dazu eingeladen, diesen Korrespondenzen nachzuspüren, sich die Augen für die poetischen Mutationen der Welt öffnen zu lassen.

Petr Borkovec
Liebesgedichte
Aus dem Tschechischen von Christa Rothmeier
Edition Korrespondenzen
2014 · 160 Seiten · 21,00 Euro
ISBN:
978-3-902951-08-3

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