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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

"Schweigend ins Gespräch"

Hamburg

Es erscheint schwierig, bei der gebührenden Behandlung der Zeitschrift "Prolog" einen Anfang zu finden. Das liegt an der deutlichen Eingebundenheit des Hefts in Berliner Kunstproduktionskontexte (zumindest in Kunstproduktionskontexte nördlich der Dorp-Dorf-Linie), angesichts derer der Rezensent, wohnhaft klar südlich des Alpenhauptkamms, nicht immer sicher sein kann, die einzelnen Elemente "richtig" zu verknüpfen.

Sagen wir es anders … Beim Durchblättern des Heftes drängt sich uns rasch ein bestimmtes Bild von der Öffentlichkeit auf, die die Herausgeber_innen Anton Schwarzbach und Dorit Trebljahr zu adressieren scheinen: Leute, die ihre Tage in Ateliers und in kleinen Galerien verbringen, sowie an diese angrenzende Tentakel des Rhizoms Literaturwelt … Sehr vieles hier erscheint zumindest so, als würde es in dieser Anordnung irgendwelche Organigramme des sozialen-istgleich-diskursiven-Kunstweltseins in einer bestimmten Gegend wo schon nicht abbilden, so zumindest implizieren. Das würde es dann sinnlos machen, über die einzelnen Gedichte auch im Einzelnen zu reden, die (sagen wir mal beispielshalber) auf Seite 20/21 unter der doppelseitigen Grafik mit Textelementen "Njedopitye labirinty / nicht ausgetrunkene Labyrinthe" von malatsion und Sascha Malatsion angeordnet sind (heisst das: Die sind z.B. Geschwister, und der/die eine hat seinen/ihren Nach- als Künstlernamen?).

Einerseits legt die Anordnung einen Zusammenhang nahe, und fordert zum Nachvollzug auf; andererseits kann ich nie wissen, ob ich da notgedrungen im Trüben fische, wenn ich z.B. Katrin Heinaus "Berliner Stadtfigur" –

Nach der Eiszeit sitzt ein Mann im Museum.
Er trägt die Felle noch, eine Vitrine schützt vor Heizungsluft.
Sein Haar ist lang, tiefgefurcht das entsetzte Gesicht.
In der Hand eine weibliche, weißleuchtende Figur.

Nachsinnen über die Göttin, frühe Pornographie
oder eine Art stete Rache?

– und das danebenstehende kurze Gedicht Kai Pohls

Krähen kreisen
  abends unter dem
    verglühenden Stadthimmel.

Wo unter den Sohlen
  der Schotter knirscht,
    ist kein Platz für eine
      abgelatschte Traurigkeit
ist kein Vergeben
  kein In-sich-kehren;

    wir haben unsere

      Chance gehabt.

miteinander zu verknüpfen versuche, und dann noch die anderen drei Texte rund um die "Labyrinth"-Grafik dazu. Ich kann nie wissen, ob ich nicht – ohne Wissen um die persönlichen Bezüge, bloß mit den Mitteln der Hermeneutik – in der Sackgasse der zwänglerischen Mustererkennung landen werde. Im konkreten Beispielfall würde ich natürlich ca. auf ein Schlagwort wie "Einsamkeit im Beziehungslabyrinth" oder so kommen; aber wie gesagt: Was weiß denn ich?)

Soviel zu den Schwierigkeiten.

Wenn wir uns aber, statt Kontexte zu interpretieren, darauf beschränken, das je Vorliegende zu beschreiben, dann finden wir: Auf vierzig Innenseiten Arbeiten von fünfundfünfzig (!) bildenden Künstler_innen und Autor_innen; darunter, fast wie ein Leitartikel platziert, ein längeres Interview mit der Betreiberin der Inselgalerie, deren mehr als zwanzigjähriges Bestehen derzeit wegen einer Mietpreiserhöhung in Frage steht.

Insgesamt scheint allen versammelten Texten (siehe auch die beiden oben zitierten) eine Tendenz gemeinsam zu sein, dass sie das, was sie "eigentlich wollen", in betont zugänglichen Alltagsschilderungen erden. Das zeitigt dann in einigen der Fälle Effekte, die wir langweilig, nicht-auf-der-Höhe-der-Zeit oder wunderlich finden können – wenn etwa ein Text, der klar von Phänomenen des einundzwanzigsten Jahrhunderts handelt, ästhetisch noch immer ungebrochen der Naturgedicht-Kippfigur von Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts aufsitzt – als Blattlinie durchaus stringent und gar nicht doof ist es trotzdem. Der Ungleichzeitigkeit der verschiedenen literarischen Mittel und Zwecke in ein und demselben Werk entspricht nämlich eine ebensolche Ungleichzeitigkeit in der bildenden Kunst und in den Lebensweisen von realen Leuten. Denn wenn wir uns fragen, was nun die graphischen Beiträge in Prolog X6 gemeinsam haben – vom Foto über die Zeichnung zur Collage zum schwarzweiss wiedergegebenen Ölgemälde –, dann kommen wir ebenfalls schnell auf "Lebensweisen realer Leute". Weil wir uns die versammelten Arbeiten in gerade dieser Kombination nämlich kaum nebeneinander an den Wänden einer Galerie oder auf den  Seiten eines Katalogs vorstellen können, aber sehr wohl, und gerade so wie hier kombiniert, an den Wänden einer Privatwohnung, wo die Verknüpfung nicht theoretisch stringent, aber vermittels eines gemeinsamen Alltags (wessen?) greifbar und – dürfen wir es wagen? – nützlich sein muss.

Mir gefällt Prolog X6, weil Heft und Beiträge nicht, aber auch überhaupt gar nicht, auf den Feuilleton-Zirkus und auf die Schrecknisse von Ästhetischen-Positionen-Als-Handelbaren-Aktien schielen. Stattdessen scheint es die Herausgeber_innen, und nicht auf populistisch-antiintellektuelle Art und Weise, tatsächlich zu beschäftigen: Wer soll das alles lesen und ansehen? Warum?

Beteiligte der Ausgabe:  Andreas Koletzki, Anija Seedler, Anton Schwarzbach, Bernd Mörsberger, Bernhard Zilling, Caca Savic, Celia Mehnert, Christian Schellenberger, Dorit Bearach, Dorit Trebeljahr, Edin Bajric, Eike Laeuen, Elizabeta Lindner, Frank Diersch, Frank Sievers, Hanna Hennenkemper, HEL Toussaint, Helene Hellmich, Helga GENG, Ilse Ermen, Jenny Löbert, Jens Langer, Johannes Witek, Kai Pohl, Katharina Körting, Katrin Heinau, Katrin Salentin, Lars-Arvid Brischke, Liana Zanfrisco, malatsion, Marina Büttner, Martin Bartels, Matthias Geitel, Miku Sophie Kühmel, Natascha Naffin, Pega Mund, Petrus Akkordeon, Philipp Koch, Ralf Tekaat, Reinhold Gottwald, Ross Henriksen, Sascha Malatsion, SAID, Simone Scharbert, Søren Bjælde, Stefan Heyer, Stefan Malicky, Stefan Riebel, Stephan Groß, Susanne Eules, Tillmann Lange, Yvonne Andrein.

Prolog ·Heft für Zeichnung und Text · "Wege" Nr. X6 / 2017
Prolog
2017 · 10,00 Euro

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