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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Beschriebenes Papier ist haltbarer als behauener Marmor

Die Verse Pindars und Dantes bedurften nicht der Erfindung des Druckes mit beweglichen Lettern um auf uns zu kommen. Und dieser Ewigkeitsatem wird auch fürderhin in gleichmäßigen Zügen hinstreichen über den Keuchhusten des „Weh-weh-weh“. Der Protagonist in Rainer Wedlers Roman „Die Leihfrist“ weiß darum. Er gehört zu jener Spezies, die ihr Leben symbolisch ordnen, indem sie ihre Bücher neu aufstellen. Die größeren Heere der gelebt-habenden Dichter umgeben den Leser-Schriftsteller. Dieser Roman bestätigt, dass Bücherzugewandheit eine besonders intensive Spielart von Weltzugewandheit darstellt. Eine gewisse Indifferenz gegenüber dem sogenannten wirklichen Leben und seinen, zumeist weiblich- personifizierten, Herausforderungen ist der Preis dieser Lebensweise. Die Bücher machen, im landläufigen Sinne, Unerreichbares zugänglich und lassen einen dafür gelegentlich selbst unerreichbar werden. Aber eine Leihfrist ist jedem gesetzt.

Bücher sucht ein Bücher-Mensch nur in seinen ungeübten Anfängen. Später suchen sie ihn. Es können Heimsuchungen darunter sein. „Besitz ist Freiheitsverlust. Besitz zwingt zum Bleiben. Aber auch, der rechte Besitz, der mir wirklich eignet, weil ich ihn mir angeeignet habe, dieser Besitz, zumal der Besitz von Büchern, bindet und macht sesshaft. Und öffnet einen anderen Raum von Freiheit.“ Autor Karl Dietrich Wilhelm Montag findet sich nach einigen Jahrzehnten zweireihig umstellt von Bücherkolonnen, und „…Auf dem Boden falteten die Bücher sich zu Steilwänden auf und wuchsen, unabhängig von geologischen Gesetzen, kaum merklich, aber unaufhaltsam weiter in die Breite und nach oben.“ Der Versuch sich einiger überflüssiger Bände durch die Müllabfuhr zu entledigen macht sich das pure Masse-Problem gebundenen Papiers bemerkbar dadurch, dass der Müllmann die büchergekrönten Tonnen nicht mehr wie gewohnt zu handhaben vermag. Der Versuch der Veräußerung über Anzeigen führt zu neuen (und alten) Abenteuern. Mit schicksalhafter Präzision knüpfen sich an die Bände Begegnungen. Die Physiognomien der Buchrücken sind kryptische Masken hinter denen Lebenswenden und Lektüre-Erlebnisse aufbewahrt bleiben.

Das Buch keine jener kauzigen Bibliophilen-Schnurren, die unter den schlichteren Sammlergemütern so beliebt sind. Der Erzählstil ist von einer vornehmen Heiterkeit und die Bibliomanie bietet nur die Takelage in der sich die Handlung, zumeist Reflektionen über Abgehandeltes, sich weiterhangelt. Das geschieht nicht in beliebiger Folge und Gleichmäßigkeit, sondern der Erzählfluss hat seine Stromschnellen und Untiefen.

Die Lektüre dieses Romans vermittelt selbst die erstaunliche Gegenwart des vormals Erlebten und Geschriebenen, mit welche die Bücher im Buch ihren Besitzer berücken. Leider ist dem Äußeren der lieblosen Digitaldruck-Broschüre selbst jede Regalfähigkeit abzusprechen.

Rainer Wedler
Die Leihfrist
POP
2009 · 132 Seiten · 12,00 Euro
ISBN:
978-3-937139814

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