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Kritik

Die Nächte explodieren in den Städten

Der Expressionismus als Gesamtkunstwerk auf der Mathildenhöhe

Die Dame an der einzigen Kasse war völlig überfordert – die Schlange der Eintrittsuchenden wand sich bis vor die Museumstore; ein Andrang, wie er selten ist auf der Mathildenhöhe in Darmstadt. Das “Gesamtkunstwerk Expressionismus” stösst auf großes Interesse: erstmals werden Werke und Quellentexte aus allen künstlerischen Disziplinen zu einem Panorama zusammengeführt; aus Film und Architektur, von Bühne und Tanz, Gemälde, Grafik, Skulptur und Plakatkunst und aus der Literatur finden Beispiele zusammen und bedrängen den wenigen zur Verfügung stehenden Raum. Aus konservatorischen und vorführtechnischen und auch aus dramaturgischen Gründen hat man abgedunkelt, stellt vieles in karges Licht. Überall ist ein Huschen, Zischeln, sind Schatten und Geflimmer, hartes, auf Inseln hingebrochenes Licht , überall ist Gemurmel, Jazz, überraschendes Gebell. Vieles ist krumm, spitz, auf die Spitze getrieben, ein Film wird in die Raumecke geworfen, Rampen führen durch verkastelt aufgeführte gelb-, grün- und blaustichige Szenen, grellbunte Bühnenbilder sind graffitiartig nachgemalt. Aus Miniaturbauten wächst monsterhaftes Dunkel lang zu den Wänden hin, in Ecken hinein und wie insektenhafte Wesen stehen bunte Ganzkörper-Tanzmasken szenisch auf einer leeren Bühne. Die Ausstellung arbeitet mit Medieninstallationen, Raumgebilden, Filmendlosschleifen (bspw. aus “Das Cabinet des Dr. Caligari”) in begehbaren Zonen und hat so gar nichts zu tun mit einem legeren Abschreiten von Stellwänden und Bildern.

Das hat sich wohl herumgesprochen und entsprechend ist die Ausstellung gut besucht. Wie von selbst entwickelt sich beim Gang durch die Ausstellung ein Gefühl für die Formen- und Farbsprache, für das Nervengeflecht des Expressionismus. Es ist die regellose Geometrie, das Stechen und Hineinhacken, das Kippen und Auf den Kopf Stellen, das kristalline Gewirr und die Ordnungsmacht des Schiefen, nichts ist rund und erledigt, alles bricht auf, spitzt sich zu, der Mensch steht fratzenhaft da und verzweifelt an der Macht des alten Dunkels, das sich überall hineinblendet - viele Filmszenen arbeiten mit Überblendungen, sind brausende Choreografien des Dramas des Rausches.  Das Drama und die Übertreibung enden in der Orgie des Fatalen, der Tod ist häßlich und der Mensch ein Zerrbild der Kräfte dorthin, eine Larve, die sich durch das grelle Flechtwerk der Zeit frißt – der Expressionismus funktioniert weil er unwahr ist und trotzdem wahr sein kann. Der Mensch ist, was er draus macht. Das eckige Zerkratzen und das zittrige Geometrisieren in den Zeichnungen und Layouts des Expressionismus ist eine Abbildung der Zeit. Man wollte das Runde nicht und später konnte man es nicht mehr, dann waren schon Panzer drüber gerollt, waren Leiber zerfetzt, über Trümmer und Ruinen verstreut und an Stacheldraht zerrissen. Brutale topologische Eigenschaften, die der Expressionismus teils vorweg nahm und die er nachmalte. Die weit aufgerissenen Augen der Expressionisten fragen nicht, sondern drücken aus, was an dunklem Konfliktmaterial im Menschen wie ein zweites Herz pocht. Durchstiche aus dem Animalischen, durch die viel zu poröse Struktur der geistigen Masken. Der Mensch steht am Scheidepunkt und weiß nicht wohin – der Geist scheint eine Farce zu sein, hinter der Kaskaden dunkler Spieße herumblitzen in alle Richtungen, die ein Raum zuläßt. Der Expressionismus kann das Sehen noch nicht sehen und blickt orientierungslos in Abgründe, die erst wieder in der Neuen Sachlichkeit mit Ruhe überspannt werden können.

Das ist in etwa, was man aus dem ausgestellten Material herauslesen kann. Es steht dort so nirgends geschrieben, aber spürbar laufen alle Impulse darauf zu. Impulse aus allen Sinnen. In verschiedenen Schauräumen kratzen excerpts aus expressionistischen Filmklassikern (die Ausstellung wurde konzipiert in Zusammenarbeit mit dem deutschen Filmmuseum in Frankfurt) über die Wände, aus einer Ecke bimmelt ein Orchester zu den Tänzen von Anita Berber, andernorts hext sich Mary Wigman durch Geschepper. Es gibt zu der Ausstellung einen 72-minütigen Audioguide inclusive CD. Insgesamt ist den Kuratoren eine atmosphärisch sehr dichte und erlebenswerte Präsentation gelungen, die umso nachhaltiger wirkt, wenn man den Katalog zur Ausstellung erwirbt und das Gesehene in Ruhe noch einmal aufgreifen und vertiefen kann. Der Verlag Hatje Cantz hat ein wundervolles Buch dazu aufgelegt, herausgegeben von Ralf Beil und Claudia Dillmann. Eine 512 Seiten dicke Schwarte, die sich als ein in Zukunft wohl unverzichtbares Standardwerk aufblättert und sicher legendären Ruf gewinnen wird. Was hier an kompetenten Beiträgen und unvergleichlichem Bildmaterial versammelt ist, fordert aufmerksames Detailstudium. Die Ausstellung kann nur anreißen, Umrisse aufzeigen – der Katalog dazu ist ein bleibendes Geschenk, das all die Wesenszüge des Expressionismus, die sich aus der Zeit in die Künste wie fingerprints übertrugen, in einer Weise nachvollziehbar macht, wie es die Spezialwerke zu den Einzeldisziplinen immer nur ansatzweise konnten. Zeitgenosse Yvan Goll hatte immer schon den Expressionismus als “Erlebnisform” bezeichnet, der sich in alle Lebensäußerungen übertragen ließ. Und der leider früh im ersten Weltkrieg verstorbene Lyriker Ernst Wilhem Lotz formulierte 1916 in einem (auch im Katalog abgedruckten) Gedicht: “Die Nächte explodieren in den Städten, / Wir sind zerfetzt vom wilden, heißen Licht, / Und unsere Nerven flattern, irre Fäden, / im Pflasterwind, der aus den Rädern bricht.”

Ralf Beil · Claudia Dillmann
Gesamtkunstwerk Expressionismus
Hatje Cantz
2011 · 512 Seiten · 68,00 Euro
ISBN:
978-3-775727129

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