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Kritik

Die Beschaffenheit der Welt

Ralf Thenior überrascht und erfreut mit zwei neuen, sehr unterschiedlichen Büchern
Hamburg

Die einen drängen abrupt an die Öffentlichkeit, die anderen sind seit Dekaden präsent, eigentlich ziemlich konstant, aber am Ende doch so unauffällig, daß man sich wundert, wie sie die ganze Zeit mitliefen, ohne daß sie einem dauernd ins Auge stachen. Zur letzten und allemal nicht unsympathischsten Sorte Autoren gehört Ralf Thenior, der auch in seinem 72. Jahr noch sehr umtriebig ist und zwei Bände mit recht unterschiedlichem Fokus vorlegen kann. Unter dem Titel „Omnibus“ — wörtlich: „für alle“, in der amerikanischen Literatur aber auch ein Begriff für einen Sammelband — hat der Herausgeber Michael Serrer Gedichte des Dortmunder Schriftstellers aus beinahe vierzig Jahren ausgewählt, von „Traurige Hurras“ bis „Große Vokalharmonie in Hasankeyf“, einschließlich unveröffentlichter neuerer Texte. Es ist allemal keine behäbige Altherrenpoesie, die uns hier in diesem klugen Querschnitt durch Theniors Werk entgegentritt. Seine Alltagsgedichte sind noch immer frisch und unverbraucht, keine Patina aus satter Reife hat sich angesetzt, kein Edelrost ist abgeblättert. Was und wie er schreibt, ist nach wie vor gültig, aktuell, ansprechend.

Ralf Thenior bleibt seit vier Jahrzehnten der Beobachtung des Alltags treu, entwickelt seinen Stil jedoch ständig weiter, oder besser gesagt: erweitert ihn, wie Jahresringe, um unterschiedliche Ansätze, Schwerpunkte und Perspektiven. Da gibt es beispielsweise die beschreibenden, realistischen Gedichte, die humorvollen, skurril getönten, schließlich die sprachexperimentellen, und sie alle sind Facetten der einen großen neugierigen Welterkundung. Dabei gelingt es Thenior, bei aller notwendigen Genauigkeit und unvermeidlichen Zeitbezogenheit, weitgehend zeit- und modeunabhängig zu sein.

Nähe und Ferne, Lokales und Globales liegt nahe beieinander. Thenior läßt die Menschen aus der Dortmunder Nordstadt genauso wie die Menschen aus Osteuropa oder Ostasien zu Wort kommen. Er beobachtet ihr Sprache und bedient sich ihrer Sprache, um zu zeigen, wie sie „ticken“. Er stellt ihre Gedanken, Gefühle und Sehnsüchte mit einer Lakonie dar, die sie nie desavouriert, weil sich hinter jedem Ausschnitt und Anriß ihres Lebens Hunderte kleiner Geschichten entfalten können, wie sie Thenior gerne festhält, Männer, Frauen, Kinder, Ehepaare in den alltäglichsten Situationen, mit ihren Träumen von (zuweilen billigem) Vergnügen, oft nicht wenig ironisch, nicht wenig entlarvend, doch voller Respekt vor ihrer Würde. Aus dem scheinbar Banalsten werden dann feine Epiphanien gemeißelt; und in den idyllischsten Großstadtmomenten klingt das dann so:

Auf dem Balkon nebenan
hängt ein Wintermantel,
Pelzfutter nach außen,
zum Lüften an der Leine;
er grüßt jedes Mal,
wenn du auf den Balkon trittst,
um die sacht schaukelnden Pappelzweige
im Hinterhof
zu betrachten.

Die Gattung des Reisegedichts ist nicht selten problematisch, weil die privaten Eindrücke für den Leser unanschaulich bleiben. Nicht indes bei Thenior, der als eine Art dichterischer Ethnologe unterwegs ist. Er trumpft mit keiner Überlegenheit auf, bleibt neugierig und wachsam, stellt sich aber auch einer gewissen Befremdung. Seine Reisegedichte sind Szenen aus dem gegenwärtigen globalen Theater, zudem stilistisch durchweg verschieden — : die Schwarzmeerimpressionen „Ameisen am Hut“ nehmen sich wie Gesänge eines modernen (Helden-)Epos aus, die interpunktionslosen „Lichtmentholbonbons“ aus Grönland montieren Sinneseindrücke und Fremdwortexzerpte, und in den „24 Stunden auf dem Mekong“ reihen sich einzelne Wahrnehmungsschnipsel wie Filmstills aneinander. Jeder Zugang ist individuell in eine literarische Tradition verortet, die „Zitronen gegen Gaspatronen“ und die „Große Vokalharmonie in Hasankeyf“ etwa visualisieren mit ihren diversen Zeileneinrückungen die thematisierte historische Bewegung und Beweglichkeit, referieren damit aber zugleich u.a. auf die Großräumigkeit der amerikanischen Lyriker wie Ferlinghetti und Berrigan.

Solchen Reisegedichten sind in dem Band „Global Lingo Travelling Inc.“ formal avanciertere Gebilde zur Seite gestellt. Wie man sich auf Grund des bisher Geschilderten denken kann, sind Theniors sprachexperimentelle Texte keine Spielereien, sondern Feldforschungen, freie Versuchsanordnungen, um dem Stand und Wandel der (v.a. gesprochenen) Sprache auf die Schliche zu kommen. In dem — so der Untertitel — work in progress „Global Lingo“ zum Beispiel werden die Wortfundstücke aus dem Alltag, etwa aus der Dortmunder Mallinckrodtstraße oder dem türkischen Trabzon, bis hin zu Formen visueller Poesie montiert. Thenior erklärt dazu:

Sie sind überall im öffentlichen Raum: Buchstaben, Zahlen, Namen, Wörter und Slogans. Man könnte fast meinen, Urbanität entstehe erst durch Reklametafeln, Neonschriftzüge, Laufschriften, Akronyme, Graffitti, Schablonenbilder, Kritzeleien und andere verbale Äußerungen an Wänden, Mauern und Fassaden. Die Hauptstadt des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist aus Wörtern zusammengesetzt.

Besitzen diese Gedichte, trotz ihrer artifiziellen Anordnung, eher dokumentarischen Charakter, gehen andere kreativer mit dem Sprachmaterial um: die „Futscher Pomes“ mit dem hübsch lautsprachlichen Titel „Main Kosängs Hobi is Kätschn“ behaupten, eine Email-Flaschenpost aus dem Jahr 2157 zu sein. Die Zukunft der Sprache mit ihrem wilden Mix aus Technik, Soziolekt und Codeswitching ist hier (vielleicht etwas zu ausschweifend) weitergedacht und gleichzeitig auf sanfte, menschenschonende Weise persifliert:

mustu buksn & steker & modem must du suchän ima
suchän past niks ne raboti one norman sprak no kaufertrag

Die Sprache befindet sich in unentwegtem Wandel, deshalb faßt Ralf Thenior die Lyrik als geistige Bewegung, als Antidot für den Stillstand, als Movens für die Erkundung des Nie-zu-Ende-Erkundeten auf. Bei jedem Umblättern in den beiden neuen Bänden tritt einem ein anderer Aspekt entgegen, augenzwinkernd, verspielt, melancholisch, zornig. Man darf gespannt sein, in welche Gefilde von Welt, Phantasie und Stil es den Autor noch verschlägt. Langweilig wird es mit ihm auf keinen Fall. Wir werden ihm gerne folgen.

Ralf Thenior
Omnibus
Edition Virgines
2016 · 160 Seiten · 19,00 Euro
ISBN:
978-3-944011-44-8
Ralf Thenior
Global Lingo Travelling Inc.
Nachwort: Walter Gödden
Edition Virgines
2016 · 152 Seiten · 15,00 Euro
ISBN:
978-3-944011-58-5

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