Anzeige
Heimat verhandeln V&R böhlau
x
Heimat verhandeln V&R böhlau
Kritik

Autoren als Netzwerker

Ralph Winter verweist den Begriff einer literarischen Nachkriegsgeneration der 1920er Jahre ins Reich der Mythen
Hamburg

Im Jahr 1903 schrieb AndréGide für die französische Literaturzeitschrift „La Phalange“ einen kurzen Beitrag, in dem er der Frage nachging, ob große Literatur zwangsläufig „national“ sein müsse, oder ob sie darauf verzichten könne (auf Deutsch findet man den Text unter der Überschrift „Nationalismus und Literatur“ im zwölften Band der von Raimund Theis und Peter Schnyder herausgegebenen „Gesammelten Werke“ AndréGides). Seine Antwort weist in zwei Richtungen: Zum einen weigert er sich, ein Werk als „große Literatur“ anzuerkennen, das nicht einen grundsätzlich „universalen […] das heißt ganz einfachen menschlichen Wert präsentiert“. Andererseits steht für ihn außer Frage, dass es für eine Nation nichts Eigentümlicheres gebe als ihre Literatur; als Beispiele nennt er Aischylos, Dante, Shakespeare, Cervantes, Molière, Goethe, Ibsen und Dostojewski. Entsprechend vertritt er die Auffassung, dass sich beide Ebenen nicht voneinander trennen ließen, „dass kein Kunstwerk eine universale Bedeutung besitzt, das nicht zuvor eine nationale hat; keine nationale Bedeutung hat, das nicht zuerst eine individuelle Bedeutung besitzt.“

Mit den deutsch-französischen Verbindungen von Literatur und Literaten in den 1920er Jahren befasst sich Ralph Winter in seiner Dissertation, die im Wallstein Verlag erschienen ist. Im Zentrum steht die Frage nach der generationellen Selbstdeutung zweier Autorengruppen: Auf deutscher Seite das literarische Umfeld Klaus Manns, dem (heute kaum mehr bekannte) Autoren wie Erich Ebermayer, Wilhelm E. Süskind, Peter de Mendelsohn, Herbert Schlüter und Willi R. Fehse zugerechnet werden; französischerseits eine Gruppe junger Autoren um die Brüder Andréund Francois Berge, die im Umkreis der Zeitschrift „Les cahiers du mois“ (1924-1927) agierte und zu der unter anderem Marcel Arland, RenéCrevel und Maurice Betz zählten. Neben einer relativ homogenen Altersstruktur – alle wurden zwischen 1897 und 1908 geboren und gehörten somit nicht zur Generation der Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges – sowie der grundsätzlichen Affinität zum jeweiligen Nachbarland verband beide Seiten, mit Gide über einen gemeinsamen Spiritus Rector zu verfügen. Gide selbst freilich dürfte das nur bedingt so gesehen haben; während er mit Crevel, der ein Freund seines Lebensgefährten Marc Allégret war, einen recht engen Austausch pflegte, hielt sich sein Interesse an der deutschen Seite um Klaus Mann – der Gide sogar eine euphorische Biografie gewidmet hatte – in Grenzen. In Gides Tagebüchern taucht Mann (anders als sein Vater Thomas) nicht auf, und auch in seiner Autobiografie „Wendepunkt“ räumt Mann offen ein, dass das Interesse an Gide eher einseitig war: „Ich bewunderte ihn. Er ließ es sich gefallen.“

So spannend die Verflechtungen deutscher und französischer Autoren in der Zwischenkriegszeit auch sind – rund 100 Seiten des Buches (Kapitel II) befassen sich mit ihnen –, im Kern geht es Winter um etwas anderes. Ihn interessiert die Frage, ob der Generationenbegriff für die beiden genannten Gruppen angewandt werden kann, und ob über ihn ein literaturhistorisch sinnvoller – sprich: möglichst homogener und transnationaler – Zugriff auf sowohl das Selbstverständnis der Autoren als auch deren Werke möglich ist. Für die genannten Autoren selbst jedenfalls war der Fall eindeutig: Sie definierten sich öffentlich als „Nachkriegsgeneration“, die ihre entscheidende Prägung im Wesentlichen im Ersten Weltkrieg – an der Heimatfront – sowie während der Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit erfahren habe.

Das stellt Winter in Frage. Sein Argument lautet, dass der Generationenbegriff, mit dem sowohl die deutsche als auch die französische Seite offensiv hantierte, weder historisch noch literarisch begründbar war. Stattdessen sei es den Akteuren in erster Linie um die „Selbststilisierung als Generation“ gegangen, sprich: „das Postulat der Zusammengehörigkeit aufgrund einer ungefähren Gleichaltrigkeit und realer oder imaginierter Gemeinsamkeiten.“ Dahinter stand das ebenso praktische wie nachvollziehbare Motiv, die eigenen Arbeiten auf einem umkämpften Markt anzubringen, das heißt: zu publizieren und wahrgenommen zu werden.

Zu den Begabtesten bei der Selbstvermarktung gehörte zweifellos Klaus Mann. Er brachte zudem den Vorteil mit, dass er – als Sohn von Thomas und Neffe von Heinrich Mann – bereits qua Geburt als eine Berühmtheit galt. Probleme, seine literarischen Arbeiten ans Licht der Öffentlichkeit zu befördern, kannte er dementsprechend nicht. Bereits die frühen Novellen und Romane des damals gerade einmal 19-Jährigen erschienen in Buchform, dasselbe galt für seine Theaterstücke, die obendrein noch an den Hamburger Kammerspielen aufgeführt wurden (übrigens in spannender Besetzung: in den Hauptrollen Klaus Mann selbst, seine Schwester Erika, Pamela Wedekind und Gustav Gründgens). Darüber hinaus trat Mann immer wieder als Herausgeber von Anthologien in Erscheinung, die von seinem bekannten Namen profitierten und in denen auch die Texte von Ebermayer, Süskind, Mendelsohn, Schlüter usw. abgedruckt wurden. Und auch sonst versuchte man sich so gut es ging zu unterstützen, etwa indem man sich gegenseitig die Bücher positiv rezensierte (ein Prinzip übrigens, an dem sich bis heute kaum etwas geändert hat), Artikel über die anderen in Zeitschriften lancierte oder einander mit Widmungen bedachte, um so die vermeintliche Zusammengehörigkeit nach außen zu tragen. 

Unterhaltsam sind, auch darauf geht Winter ein, die Reaktionen des feuilletonistisch-literarischen Establishments auf das offensive Auftreten der Jungautoren. So kommentierte Axel Eggebrecht anlässlich des Erscheinens der Anthologie „Die jüngste Dichtung“ (1927) in der „Literarischen Welt“ treffend: „Die jüngste Generation unserer Literatur […] versteht es ausgezeichnet, ihre kleinen Äußerungen in Szene zu setzen, ihre Talentchen zu organisieren. Was diesen jungen Menschen an Lebendigkeit, an Kraft, an Absichten fehlt, das ersetzen sie durch eine vorzüglich arbeitende Kameraderie, eine exakt funktionierende Erfolgsversicherung auf Gegenseitigkeit.“ (S. 191). Und beißend war auch der Spott, den Kurt Tucholsky ein Jahr später anlässlich der Publikation einer „Anthologie jüngster Prosa“ (1928) über die Herausgeber Klaus Mann und Erich Ebermayer ausgoss: „Denn was sich da als ‚heutige Generation‘ aufkakelt, ist gar keine. Da ist das Loch, das der Krieg gerissen hat: eine Generation fehlt. Ein Repräsentant wie Erich Ebermeyer [sic] ist überhaupt nichts – nur unbegabt und unjung, und leicht verschmockt sind sie fast alle. Man braucht nicht gleich auf das Niveau Klaus Manns herunterzusteigen, der von Beruf aus jung ist und von dem gewiß in einer ernsthaften Buchkritik nicht die Rede sein soll – aber wie alt sind sie! Wie fertig! Wenn es noch Chaos wäre! Aber es sind fix und fertige Feuilletonredakteure mittlerer Provinzblätter, und keine Guten.“

Die Kritik war nicht ganz unberechtigte: Denn trotz ihrer Stilisierung als „Nachkriegsgeneration“ finden sich weder in den autobiografischen Dokumenten der deutschen noch der französischen Seite nennenswerte Hinweise auf den Ersten Weltkrieg. Stattdessen wurde der Krieg, wie Winter überzeugend darlegt, erst in der Rückschau zum vermeintlich identitätsstiftenden Ereignis erklärt und ihm so nachträglich eine Funktion zugeschrieben, die nicht mit den tatsächlichen (individuellen) Erfahrungen der Schriftsteller in den Jahren 1914 bis 1918 übereinstimmte. Das lag zum einen daran, dass die meisten der betrachteten Autoren während des Ersten Weltkrieges noch recht jung waren – Kinder oder Teenager – und somit vom Krieg nicht direkt – etwa in dem Sinne, dass sie an die Front hätten müssen – betroffen waren; zum anderen stammten sie fast ausnahmslos aus wohlhabenden Familien, für die der Krieg keine die materielle Existenz ernsthaft gefährdende Situation darstellte, sieht man einmal von dem einen oder dem anderen Engpass bei bestimmten Lebensmitteln ab.

Ralph Winter entlarvt somit die Versuche Klaus Manns & Co., sich nach dem ersten Weltkrieg als eine neue Generation von Schriftstellern geschlossen zu präsentieren, als eine geschickte Marketingstrategie, die darauf abzielte, über ein vermeintliches Alleinstellungsmerkmal eine eigene Nische im literarischen Betrieb zu besetzen. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Netzwerke, die die Autoren untereinander geknüpft hatten; über sie versuchte man sich gegenseitig zu unterstützen und gemeinsam im Feld zu behaupten, nicht zuletzt gegen Anfeindungen von außen. Eine die Ländergrenzen übergreifende – sprich: transnationale – Literatur ist dabei jedoch nicht entstanden. Dafür blieben die Autoren auch weiterhin zu sehr ihrer jeweiligen Sozialisation verhaftet.

Wenn sich auch die Qualität der Literatur in Grenzen hielt (die meisten der genannten Autoren sind heute zu Recht in Vergessenheit geraten), so dürfte zumindest Klaus Mann aus dieser Zeit wertvolle Erfahrungen mitgenommen haben. Mit dem Gang ins Exil 1933 entwickelte er sich nicht nur zu einem wichtigen Schriftsteller, sondern auch zur (zumindest vorübergehend) exponiertesten deutschen Stimme im Ausland gegen die Nazi-Diktatur. Unermüdlich arbeitete er daran, deutsche (und auch französische) Schriftsteller im Kampf gegen Hitler zusammenzubringen. Das Resultat konnte sich sehen lassen: „Die Sammlung“, eine zwischen 1933 und 1935 beim Amsterdamer Querido-Verlag erschienene literarische Monatszeitschrift, ist ein bemerkenswertes Dokument des literarischen Widerstandes im Exil (wenngleich sich Klaus Mann eine noch stärkere politische Stoßrichtung gewünscht hätte). Die Liste ihrer Beiträger liest sich wie ein „Who is Who“ der deutschen Exilliteratur. 

Ralph Winter · Dirk Schumann (Hg.)
Generation als Strategie
Zwei Autorengruppen im literarischen Feld der 1920er Jahre. Ein deutsch-französischer Vergleich
Wallstein
2012 · 431 Seiten · 39,90 Euro
ISBN:
978-3-835310742

Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge