Die Zukunft der Welt
Wenn ein Beamter in Indien auf ein Jahreseinkommen von umgerechnet 1.000 Dollar kommt und in einer der teuersten Gegenden Delhis eine stattliche Villa bewohnt, dann liegt der Verdacht nahe, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Und das hat nichts mit den indischen Immobilienpreisen zu tun, die in Ballungszentren wie Delhi oder Mumbai längst ein Vielfaches über denen der meisten westlichen Metropolen liegen. Vielmehr haben etliche indische „Staatsdiener“ eine Nische für sich entdeckt, am indischen Turbokapitalismus teilzuhaben.
Denn ohne Beziehungen in die Welt der politischen und administrativen Entscheider läuft in der indischen Geschäftswelt nichts. Diesen Umstand lassen sich Politiker und Staatsangestellte fürstlich entlohnen. Sei es, indem sie selbst ins Geschäft einsteigen und riesige Landstriche oder Unternehmen erwerben; sei es, dass sie sich für ihre Unterstützung oder schlicht fürs Wegsehen ein ordentliches Stück vom Kuchen abschneiden. Beispiele dafür, wie das konkret aussieht, liefert der britische Autor Rana Dasgupta, der seit vielen Jahren in Delhi lebt, in seinem Buch zur Genüge.
Wer etwa bei der Eisenbahnverwaltung tätig ist, ändert kurzerhand die Reihenfolge der Güterzüge und kassiert dafür bis zu 4.000 Dollar – pro Zug! Wer weiß, wo die nächsten Infrastrukturprojekte geplant sind, kauft sich vorab das dazugehörige Land (oder verkauft sein Wissen darüber) und scheffelt so Millionen. Und selbst eine scheinbar so triviale Sache wie der Ticketverkauf am Hauptbahnhof von Delhi läuft über ein verzweigtes System, welches am Ende dazu führt, dass ein Großteil der Erlöse in den Taschen korrupter Bahnbeamter landet. Wer als Indienreisender schon einmal beim Versuch eine Fahrkarte zu kaufen von Schalter zu Schalter geschickt worden ist und sich gewundert hat, was der tiefere Sinn dahinter sein mag – in Dasguptas Buch findet er die Auflösung.
Korruption und Misswirtschaft sind die Schmiermittel des indischen Wirtschaftsbooms. Dieser hat in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten dazu geführt, dass ein sehr kleiner Teil der indischen Gesellschaft unermessliche Reichtümer anhäufen konnte, während die große Mehrheit weiterhin in Armut und Elend lebt. Dasgupta hat, meist unter dem Deckmantel der Anonymität, mit zahlreichen Profiteuren des Booms gesprochen. So unterschiedlich deren Geschichten im Einzelnen sind, die dahinterstehenden Strukturen ähneln sich stets.
Das Ende des Kalten Krieges brachte die Liberalisierung der indischen Wirtschaft. Angehörige der Mittelschicht nutzten die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel für alle nur denkbaren geschäftlichen Aktivitäten, die bisher in staatlicher Hand gelegen hatten. Nicht zu Unrecht vergleicht Dasgupta die Situation in Indien am Beginn der 1990er Jahre mit der in Russland, wo sich einige eng mit den öffentlichen Institutionen verbundene Oligarchen einen Großteil der vormals staatlichen Besitztümer unter den Nagel rissen. Die so generierten Gewinne wurden unversteuert reinvestiert, nicht selten in Immobilien, was eine einzigartige Explosion der Haus- und Grundstückspreise zur Folge hatte. Noch heute ist es in Städten wie Delhi oder Mumbai üblich, dass bei völlig überteuerten Immobiliendeals 60 Prozent und mehr des Kaufpreises Cash entrichtet werden. Mit ernsthaften Repressionen ist nicht zu rechnen, da die Nutznießer des Systems häufig selbst in den Parlamenten oder hohen öffentlichen Funktionen sitzen bzw. über enge Verbindungen dorthin verfügen.
Wird sich daran absehbar etwas ändern? Dasgupta glaubt nicht daran. Zu tief verwurzelt sind die Strukturen, zu groß und mächtig ist die Zahl der Profiteure. Wie groß das Ausmaß des Verbrechens tatsächlich ist, lässt sich auch daran ablesen, dass 2014 gegen 186 der 522 Abgeordneten des indischen Parlaments (immerhin 35 Prozent) ermittelt wurde. In 112 Fällen ging es allerdings gar nicht um Korruption, sondern um Vergehen wie Mord, Vergewaltigung und Anstiftung zum Mord. Verurteilungen sind die Ausnahme.
Wer Dasguptas eindrucksvolles Buch gelesen hat, kann nachvollziehen, warum so viele Inder große Hoffnungen in den neuen indischen Premierminister Narendra Modi setzen. Dieser war im vergangenen Jahr mit dem Versprechen angetreten, Indien vom Geschwür der Korruption und Misswirtschaft zu befreien und die Grundlage für einen neuen industriellen Aufschwung zu legen. Im Westen hingegen begegnete man Modi (zumindest anfänglich) mit Skepsis, weil er als Ministerpräsident von Gujarat nicht wirksam genug gegen antimuslimische Ausschreitungen vorgegangen sein soll.
Ob sich in Delhi tatsächlich die Zukunft der globalisierten Welt abzeichnet, wie Dasgupta das behauptet, ist hingegen fraglich. Die Grundlage der von ihm geschilderten indischen Verhältnisse ist das komplette Versagen aller staatlichen Institutionen, deren Agieren keinerlei Kontrolle unterworfen ist, weil die jeweils nächsthöhere Instanz immer noch eine Spur verkommener und korrupter ist (von der mangelnden Rechtsstaatlichkeit ganz zu schweigen). Davon aber ist man in den meisten westlichen Staaten, auch wenn die Schere zwischen reich und arm in Folge des billigen Geldes und den Möglichkeiten der schnellen Spekulation offenbar größer wird, noch ein gutes Stück entfernt.
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